Berlin
Müntefering: „Wir müssen das durchziehen“

31.10.2020 | Stand 02.12.2020, 10:14 Uhr
Der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering sieht in der Pandemie jeden in Verantwortung. −Foto: Jšrg Carstensen/dpa

Der Umgang mit Corona stellt auch die Demokratie in Deutschland auf die Probe. Das meint Franz Müntefering, der die Politik im Land über Jahrzehnte mitgeprägt hat. Wie einig sollten sich die Parteien dabei sein?

Der Umgang mit der Corona-Pandemie ist nach Ansicht des früheren SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering ein Lehrstück für die Kraft der Demokratie in Deutschland. „In der Pandemie hat sich unsere Demokratie als stabil gezeigt“, sagte Müntefering der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.

So wie Politik und Gesellschaft in Deutschland auf die Gefahr durch das Virus reagieren, zeigt sich in seinen Augen, ob die politischen Spielregeln funktionieren. Inmitten aller Sorgen um das Wohlergehen des Landes und der Menschen in der Krise macht der 80-Jährige aber auch Hoffnung.

Die erste Beobachtung des früheren SPD-Fraktionschefs, der die Politik über Jahrzehnte mitprägte und auf eine mehr als 30-jährige Erfahrung als Abgeordneter zurückblickt: „Die große Mehrheit der Bevölkerung vertraut darauf, dass die Politik sich nach besten Kräften bemüht, vernünftige Lösungen zu finden.“ Tatsächlich zeigen auch jüngste Umfragen eine mehrheitliche Unterstützung der Anti-Corona-Politik.

Der Föderalismus kann nach Münteferings Ansicht helfen, entbinde aber nicht von der Verantwortung fürs Ganze. „Und politische Verantwortung nicht von der jedes Einzelnen“, sagt er. „Die Infizierungsgefahr endet nicht, wenn die Politik das beschließt, sondern wenn alle beitragen, sich nicht zu infizieren und andere auch nicht.“

Die Mehrheit, im Grunde alle, müssten den Mut haben, zu sagen: „Wir müssen das durchziehen, müssen die Pandemie eindämmen und Arbeit, Wirtschaft und Sozialstaat und Gesundheit eines jeden Menschen zu schützen versuchen.“

Untergräbt Parteienstreit den breiten Konsens? Müntefering, dessen jüngste Gegenwartsanalyse im September in Buchform erschienen war, meint: Nein. Es sei richtig, dass die demokratischen Parteien bei Bedarf um den richtigen Weg streiten. „Nicht immer ist von vornherein klar, was genau das Richtige ist.“ Er meint: „Es ist gut, dass wir SPD haben und CDU/CSU, die Grünen und die Linken und die FDP - also ein anstrengendes Spektrum.“ Denn: Innerhalb dieses Spektrums gebe es ein Grundvertrauen in die demokratische Verlässlichkeit.

Was er meint, beschreibt der gebürtige Sauerländer mit einer Anekdote. „Als 1982 Helmut Kohl Kanzler wurde, war ich stinksauer. Ich wollte damals fast aus der Politik raus.“ Er habe keinen Kanzler gewollt, der immer gegen die Ostverträge des früheren SPD-Kanzlers Willy Brandt agitiert hatte, also gegen das Zugehen der Bundesrepublik auf die DDR. „Aber als Kanzler hat Kohl dann gesagt: Dies ist demokratisch entstanden, im Land und überall sollen alle wissen, dass unsere Vereinbarungen gelten.“

Auf heute sei dies übertragbar. Grundvertrauen heißt für Müntefering: Niemand manipuliert die Regeln, wenn er an der Macht ist. „Unter den demokratischen Parteien ist klar: Sie werden die freien Wahlen nicht torpedieren, die Gerichte nicht torpedieren, die freien Medien nicht strangulieren.“

Wenige Tage vor der US-Wahl mahnt Müntefering, der wie Ex-Kanzler Gerhard Schröder vor allem für die rot-grünen Regierungsjahre steht: Demokratische Parteien täten nicht das, was autokratische Machthaber tun. „Ungarn, Polen, die Türkei, Russland fallen ein. Auch der derzeitige US-Präsident.“ Stattdessen würden sich diese Parteien wieder dem Urteil der Wählerinnen und Wähler stellen.

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