Wiesbaden
„NSU 2.0“: Beuth berichtet von 69 Drohschreiben

21.07.2020 | Stand 02.12.2020, 10:56 Uhr
Hessens Innenminister Peter Beuth beantwortet Fragen im Innenausschuss des Landtags. −Foto: Arne Dedert/dpa Pool/dpa

Mittlerweile werden die Drohschreiben mit der Unterschrift „NSU 2.0“ in viele Bundesländer verschickt. Ob es sich bei allen Drohungen um denselben Absender handelt, ist offen.

Wer steckt hinter den Drohschreiben mit der Unterschrift „NSU 2.0“? Auch nach einer mehr als vierstündigen Sitzung des Innenausschusses im hessischen Landtag am Dienstag ist die Antwort auf diese Frage offen.

Eine neue Erkenntnis dagegen ist: Die Liste der rechtsextremen Drohschreiben an Politikerinnen und andere Personen des öffentlichen Lebens ist deutlich länger als bislang bekannt.

Die Ermittler des hessischen Landeskriminalamts (LKA) hätten Informationen über 69 rechtsextreme Drohschreiben, die mit dem Kürzel „NSU 2.0“ versendet wurden, sagte Innenminister Peter Beuth (CDU) im Ausschuss. Diese richteten sich an 27 Menschen und Institutionen in insgesamt acht Bundesländern. Neun Personen wohnten in Hessen. „In nahezu allen Fällen“ wurde die gleiche Absenderadresse verwendet.

Parallel zu der Sitzung wurde bekannt, dass in der Nacht zum Dienstag erneut mehrere Politiker und andere Persönlichkeiten Mails mit Morddrohungen erhalten hatten. In der Sammelmail, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, werden die Adressaten auf üble Weise beschimpft und mit dem Tode bedroht. Unterzeichnet ist die Mail mit „NSU 2.0“ und „Der Führer“.

So viel ist nun bekannt - ebenso, dass in drei Fällen den Drohschreiben Datenabfragen an hessischen Polizeicomputern vorangegangen waren. Doch fast zwei Jahre, nachdem die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz das erste „NSU 2.0“-Drohschreiben erhielt, konnten die Ermittler des Landeskriminalamts noch keine Tatverdächtigen ermitteln - obwohl mittlerweile mehr als 60 Beamte in der zuständigen Arbeitsgruppe arbeiten.

Das Ermittlungsverfahren habe „absolute Priorität“, versicherte Albrecht Schreiber, der Leiter der Frankfurter Staatsanwaltschaft, im Innenausschuss. In dem Ermittlungskomplex seien mindestens 30 Zeugen vernommen, Interpol-Auskünfte eingeholt und Rechtshilfeersuchen ins Ausland gestellt worden - gerade um Aufschlüsse über die technisch verschleierte Übermittlung der Drohschreiben zu erhalten. Bisher allerdings ohne Erfolg. Es sei eben ein ganz anderes Verfahren als etwa der Fall eines Messerangriffs, argumentierte der Staatsanwalt.

„Wütend und betroffen“ über die Angaben im Ausschuss zeigte sich insbesondere Hermann Schaus von der Linken-Fraktion. Er habe den Eindruck, dass die Ermittlungen „lasch und leger“ geführt worden seien, sagte er nach der Sitzung, in der er vor allem das Vorgehen nach Datenabfragen an zwei Rechnern in zwei Wiesbadener Polizeirevieren kritisiert hatte. In einem dieser Reviere waren die Daten der Linken-Fraktionsvorsitzenden Janine Wissler abgefragt worden, in einem anderen die der Kabarettistin Idil Baydar.

Im Fall von Basay-Yildiz sei nach der Datenabfrage in einem Frankfurter Polizeirevier das Handy eines Polizisten gesichert worden, sagte er. Im Zuge der weiteren Ermittlungen sei dann zunächst eine Chatgruppe innerhalb der Polizei mit rechtsextremen Inhalten aufgedeckt worden, auch weitere Verdachtsfälle seien damals ermittelt worden. Nicht so in Wiesbaden. „Kein Datenträger wurde sichergestellt, kein Handy eingezogen“, so Schaus.

Bisher habe ein zeitlicher, aber kein kausaler Zusammenhang belegt werden können, sagte Beuth im Ausschuss über Datenabfragen und Drohschreiben. Es lägen auch keine Hinweise auf weitere Abfragen betroffener Personen von hessischen Polizeirechnern in diesem Zusammenhang vor. Die hessischen Ermittlungsbehörden ständen im engen Austausch mit den Bundesländern und dem Bundeskriminalamt (BKA).

Die Bezeichnung „NSU 2.0“ bezieht sich auf die Terrorgruppe NSU („Nationalsozialistischer Untergrund“), die zwischen 2000 und 2007 in Deutschland zehn Menschen ermordete. Es handelte sich um acht türkischstämmige und einen griechischstämmigen Kleinunternehmer sowie eine Polizistin.

Der Innenminister hat einen Sonderermittler eingesetzt, der sich mit weitreichenden Befugnissen federführend um die Aufklärung der Vorkommnisse kümmern soll. Beuth hatte nach Bekanntwerden einer neuen Abfrage von einem Polizeicomputer aus gesagt, er schließe nicht mehr aus, dass es ein rechtes Netzwerk in der hessischen Polizei geben könnte. Im Innenausschuss sagte Beuth, es gebe jedoch bis heute keine Belege für ein solches Netzwerk. Doch es gibt eben auch keine Entlastung.

Bisher wurden drei Beamte mit Kontakten zu Rechtsextremen ermittelt, die allesamt keine Tätigkeit bei der Polizei mehr ausübten und Kontakte über Social Media oder andere virtuelle Wege gehabt hätten, sagte Beuth. Hinweise auf Verhältnisse zwischen Polizisten und Rechtsextremisten „im wirklichen Leben“ seien nicht festgestellt worden. Und auch wenn Vertreter aller Parteien betonten, der überwiegende Teil der Polizisten leiste gute Arbeit und verdiene Vertrauen, fiel ein Satz immer wieder im Innenausschuss: „Es geht um die Integrität der hessischen Polizei“.

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dpa