Ingolstadt
Politik, Morddrohungen und Audis Zukunft

Grünen-Chef Robert Habeck in Ingolstadt

07.11.2019 | Stand 23.09.2023, 9:21 Uhr
Besorgt über sprachliche Verrohung: Grünen-Chef Robert Habeck bei seiner Lesung in der Ingolstädter Halle Neun. −Foto: Weinretter

Ingolstadt (DK) Die Grünen sind im Aufwind - auch in der Region, und wer einen Beweis dafür sucht, findet den am Mittwochabend im Ingolstädter Kulturzentrum "Halle neun". Der Parteivorsitzende Robert Habeck gibt dort eine Lesung aus seinem neuen Buch "Wer wir sein könnten - Warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht" und 200 Menschen aus der ganzen Region wollen ihn sehen.

Zwei Stunden lang liest Habeck mal aus diesem Buch, mal aus seiner schon früher erschienen Autobiographie "Wer wagt, beginnt". "Ich will keine Parteigeschichte draus machen", sagt Habeck, der mit weißem hochgekrempeltem Hemd und Jeans breitbeinig auf der Bühne steht - wie der Kumpel von nebenan. Der Inbegriff des Realo. Lässig liest und plaudert er sich durch den Abend, beantwortet zahlreiche Fragen. Ein Politstar zum Anfassen, der in der Pause und am Ende auch noch eifrig Bücher signiert.

Das Buch über Sprache in der Demokratie ist ein Bestseller - und wie Habeck einräumt - ist es eigentlich schon wieder veraltet. Denn seit es vor einem Jahr erschienen ist, ist alles noch viel schlimmer geworden. "Es gab eine sprachliche Radikalisierung - und es gab Taten", sagt Habeck. "Sprache, Worte und Taten stehen wirklich in einem ursächlichen Zusammenhang" Er erinnert an den Anschlag auf die Synagoge in Halle, an den Mord am Nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke in Kassel.

Und natürlich gibt es die Morddrohungen gegen die Grünen-Spitzenpolitiker Cem Özdemir und Claudia Roth. Bei der Lesung deutet er das nur kurz an, aber anschließend im kurzen Gespräch mit unserer Zeitung nimmt er Stellung. Auch er selbst habe im thüringischen Wahlkampf eine Morddrohung erhalten. "Die Polizei konnte den Menschen ermitteln, der sie ausgesprochen hat." Man müsse das ernst nehmen, sagt er. "Es gibt Unterstützung und Austausch mit den entsprechenden Behörden. Das ist schon viel mehr als die meisten Menschen im Alltag für sich in Anspruch nehmen können. Ziel der Angriffe sind ja nicht nur Spitzenpolitiker sondern auch Ehrenamtliche in Verbänden, Vereinen, in der Flüchtlingshilfe, Kommunalpolitikerinnen, Journalisten. Das ist ein Angriff auf die Demokratie und alle jene, die sie mit Leben füllen." Wie geht man mit solchen Drohungen um? "Für mich gilt, glaube ich, was für viele gilt: Man versucht, das aus dem Kopf zu kriegen."

In seiner Lesung geht er der Frage nach, wie man sich "ordentlich die Meinung sagen kann" und gleichzeitig noch Raum lässt für die Argumente des anderen. Wo verläuft die Grenze zwischen konstruktivem demokratischen Streit und einer Sprache, die das Gespräch bewusst zerstört? Wer gar nicht wirklich diskutieren will, ist nach Habecks Einschätzung leicht zu erkennen - an seiner Humorlosigkeit. "Menschen mit geschlossenen Weltbildern, Fundamentalisten, können nicht über sich selbst lachen." Aber auch grundsoliden deutschen Politikern bescheinigt er das Problem der "Sprachlosigkeit". Daran seien seinerzeit auch die Jamaika-Verhandlungen gescheitert, trotz aller anfänglichen Freundlichkeiten: "Es gab keine Leitidee, keine Sprache - nada." Am Ende kam es dann notgedrungen erneut zu einer großen Koalition. Punktgenau zu Habecks Ingolstadt-Visite zieht die Groko ihre Halbzeitbilanz. Der Grünen-Chef ist überzeugt, dass die Koalition weiterhin hält. "Ich glaube, es geht weiter, aber es geht als Gewürge weiter. Die werden sicherlich hin und wieder noch Sachen hinbekommen. Aber dass sie die Kraft für große gesellschaftliche Antworten finden, das kann ich nicht erkennen. Es ist eindeutig, dass die Parteitaktik die Oberhand gewinnt."

Währenddessen kommt die AfD in Thüringen auf 27 Prozent. Habeck sagt: "Das ist nicht nur ein Menetekel für ein 1,7 Millionen-Einwohner-Land", sondern die Politiker aller anderen Parteien müssten sich fragen, wie sie damit umgehen, zum Beispiel wenn sie mit AfD-Politikern in Talkshows sitzen. Habecks Rat: "Das Gespräch ernst nehmen, sich darauf einlassen - und dann mutig widersprechen."

Bei Hass und Hetze im Netz ist aber auch er mit seinem Latein am Ende. Dass die Grünen-Politikerin Renate Künast mit unsäglichen Beleidigungen überzogen werden darf, ohne dass das strafbar ist, kann der Partei-Chef nicht fassen. "Wenn das durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt ist, dann gibt es gar kein Halten mehr."

Am Nachmittag schon war Habeck zu Besuch bei Audi gewesen und hatte, wie kurz berichtet, mit etwa 20 Vertrauensleuten der IG Metall gesprochen. Nicht zum ersten Mal, denn vor einem Jahr, im bayerischen Landtagswahlkampf, war er schon einmal da. Damals habe er massive Ängste bei der Belegschaft gespürt. Und: "Ich war der Buhmann." Inzwischen sei die "nachvollziehbare Sorge der Belegschaft immer noch übergroß - aber anders als vor einem Jahr Jahr haben wir heute darüber geredet, wie man den Weg in die Zukunft gestaltet und nicht darüber, ob dieser Weg überhaupt nötig ist."
 

Richard Auer