Über die Moral der Grünen

Berlin-Kolumne

13.09.2019 | Stand 02.12.2020, 13:04 Uhr
Blumen an der Stelle in Berlin-Mitte, an der bei einem Unfall mit einem SUV vier Menschen gestorben sind. −Foto: Paul Zinken

Viele Berliner legten in den vergangenen Tagen Blumen der Trauer an der Ecke Ackerstraße/Invalidenstraße in Mitte ab. Der furchtbare Unfall mit vier Toten am Freitag vor acht Tagen hat die Stadt tief getroffen. Die Restaurants in dem belebten Kiez waren gut gefüllt, viele wollten einen der letzten Sommerabende genießen. Ein guter Freund von mir stand an der Kasse in einem Rewe-Supermarkt in der historischen Ackerhalle. Genau gegenüber der Unfallstelle. Und dann kam der Knall. Für eine Sekunde sei es mucksmäuschenstill gewesen, erzählte er. Die Leute schauten sich gegenseitig an, bis jemand fragte: „War das wieder ein Anschlag?“

Seit dem Attentat auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz mit zwölf Toten am 19. Dezember 2016 ist jedem Berliner klar, dass er in einer internationalen Metropole wohnt und sich nicht gegen Terrorismus wehren kann. Er lebt gern in dieser quirligen Stadt mit all ihren Problemen. Aber in der Tat ist etwas in diesem Alltagsleben hinzugekommen: routinierte Gelassenheit. So war es auch am Unfallabend. Die Ohren- und Augenzeugen standen nicht wie die Gaffer auf der Straße, sondern gingen weg und überließen den professionellen Helfern die Unfallstelle. Die Polizei vernimmt jetzt sukzessive die rund 50 Zeugen. Denn der Unfallhergang ist nach wie vor unklar. Wie konnte es dazu kommen, dass der 42-jährige Fahrer mit seinem SUV Porsche Macan in eine Gruppe von Passanten raste und vier Menschen tötete?

Ob er einen epileptischen Anfall hatte, ist noch nicht geklärt. Denn die Patientenakte kann nicht einfach von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt werden, da es laut Strafprozessordnung ein Beschlagnahmeverbot bei Berufsgeheimnisträgern gibt – in diesem Fall die behandelnden Ärzte des Fahrers, der inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen wurde und sich anwaltlich vertreten lässt.

Nur die Grünen wissen natürlich schon, was die Lösung ist, nämlich der Kampf gegen große Geländewagen in den Städten. Der Bezirksbürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), spricht von „panzerähnlichen Autos“, die als „Klimakiller“ nicht in die Innenstadt gehörten. Dass die Deutsche Umwelthilfe sofort mit auf das Trittbrett springt, ist auch nicht verwunderlich.

Es ist höchst degoutant, dass eine Partei wie die immer den moralischen Zeigefinger erhebenden Grünen billige Verbotspolitik auf Kosten von vier toten Unfallopfern und dem Leid der Hinterbliebenen macht. Kann man nicht einfach mal die Klappe halten, das Unfallergebnis abwarten und seine Betroffenheit bei den Angehörigen zum Ausdruck bringen? Stattdessen startet die Partei eine Diskussion über ein SUV-Verbot. Das passt natürlich gut in ihr grünes Konzept. Denn Autos sind per se schädlich, und große Autos sind gleich Panzer und gefährlich für den Menschen. Solche Aktionen tragen zu einer Verrohung der Sitten bei. Die Grünen sollten künftig nicht mehr mit den Fingern auf die anderen Parteien zeigen und sich über die Nichteinhaltung von politischem Anstand empören.

Bleiben wir noch einen Augenblick im Bezirk Mitte: Es brauchte drei Tage, um an der gefährlichen Kreuzung Invalidenstraße Ecke Ackerstraße eine Behelfsampel zu installieren, nachdem der Unfallwagen die Lichtmastanlage zerstört hatte. Die Ämter hatten alle Hände voll zu tun, um sich gegenseitig die Verantwortung für die fahrige Verkehrspolitik zuzuschieben.

Ein Anwohner wandte sich an den grünen Bezirksbürgermeister und appellierte dringend, an der seit längerem schon gefährlichen Kreuzung eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h zu erlassen und statt einer reinen Fußgängerampel eine komplette Ampelanlage zu errichten. Das können die Bezirke in Berlin anordnen. Er erhielt eine recht pampige Antwort aus dem Bürgermeisterbüro: Bezüglich der Ampelinstallation und der Geschwindigkeitsreduzierung sei das Bezirksamt leider nicht zuständig. Für Ampeln sei allein die Verkehrslenkung zuständig. Die Verkehrslenkung, für die die grün geführte Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz verantwortlich ist, gilt seit Jahren als unfähigste Behörde in Berlin. Das ist wieder so ein Tag, an dem man der rot-rot-grün regierten Hauptstadt den Stempel „unregierbar“ aufdrücken möchte.

Die Ingolstädterin Sabine Beikler lebt seit vielen Jahren in Berlin und arbeitet dort als politische Korrespondentin beim Tagesspiegel.