Die untröstliche Trostfrau

Die Koreanerin Won-Ok Gil wurde während des Zweiten Weltkriegs als Mädchen von japanischen Soldaten in Front-Bordellen vergewaltigt. Heute kämpft die 90-jährige ehemalige Zwangsprostituierte für die Wiederherstellung ihrer Ehre. <DK-Autor>Philipp Hedemann</DK-Autor>

30.05.2018 | Stand 23.09.2023, 3:23 Uhr
Philipp Hedemann
Won-Ok Gil (Mitte) kämpft für eine Entschuldigung Japans. −Foto: The Korean Council for the Women Drafted for Military Sexual Slavery by Japan

Die Koreanerin Won-Ok Gil wurde während des Zweiten Weltkriegs als Mädchen von japanischen Soldaten in Front-Bordellen vergewaltigt. Heute kämpft die 90-jährige ehemalige Zwangsprostituierte für die Wiederherstellung ihrer Ehre.

Berlin/Seoul (DK) Won-Ok Gil sitzt in ihrem Rollstuhl und singt. Ihre Stimme ist leise und brüchig und dennoch stark und warm. Immer wenn Frau Gil nicht mehr weiterwusste, hat sie gesungen. Gesungen, um nicht zu weinen. Die Koreanerin hat viel gesungen. Sie sang, weil sie verraten, vergewaltigt und vergessen wurde. Gerade einmal 13 Jahre war sie alt, als sich ein Soldat das erste Mal an ihr verging. In den folgenden fünf Jahren wurde sie Tausende Male missbraucht. Oft von mehreren Männern gleichzeitig, manchmal hatte sie noch nicht einmal die Zeit, sich zu waschen, bevor der nächste Soldat sich über sie hermachte. Heute ist Won-Ok Gil 90 Jahre alt und eine der letzten sogenannten "Trostfrauen". Rund 200000 Frauen und Mädchen wurden zwischen 1937 und 1945 im Pazifikkrieg von der japanischen Armee in Soldatenbordellen zur Prostitution gezwungen. Heute leben noch 28 der offiziell in Korea registrierten Trostfrauen. Die alten Damen kämpfen für eine Entschädigung und eine offizielle Entschuldigung der japanischen Regierung. Sie wissen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Won-Ok Gil ist die Galionsfigur der Bewegung.

Won-Ok wurde mit dem Versprechen, in einer Fabrik gut bezahlte Arbeit zu finden, in die von Japan besetzte Mandschurei gelockt. Doch statt am Fließband, landet Won-Ok in einem Bordell für japanische Soldaten. Mehrfach täglich wird sie dort vergewaltigt, meist ohne Kondom. Bald erkrankt sie an einer Geschlechtskrankheit. "Ich hatte überall Bläschen und bekam so hohes Fieber, dass ich keine Soldaten mehr empfangen konnte", erinnert sich die ehemalige Zwangsprostituierte fast 80 Jahre später.

Ohne ihr Einverständnis wird Won-Ok daraufhin von japanischen Militärärzten operiert. Als Folge der verpfuschten Operation bilden sich faustgroße Zysten, später müssen Eileiter und Gebärmutter entfernt werden. "So etwas Grausames hätten die Japaner ihren eigenen Töchtern niemals angetan", ist Won-Ok Gil überzeugt. Als sie nach dem brutalen Eingriff nicht mehr im Bordell arbeiten kann, wird sie in eine japanische Munitionsfabrik geschickt. Die Arbeit ist hart, die Bezahlung miserabel.

Um nicht zu verzweifeln, singt sie während der langen Schichten. Doch ihr schöner Gesang wird ihr zum Verhängnis. Won-Ok erhält das Angebot, in Bars in der von Japan besetzten chinesischen Stadt Shijiazhuang zu singen. Erneut fällt sie auf das falsche Versprechen ein, erneut landet sie im Kriegsbordell. "Dort wurde ich oft vergewaltigt, bis ich blutete. Aber wenn ich mich weigerte, Soldaten zu empfangen, wurde ich geschlagen", berichtet Won-Ok Gil. Eine Narbe, die durch ihr dünnes Haar schimmert, legt Zeugnis von den Torturen ab. Ein Soldat fügte dem damals noch minderjährigen Mädchen die Wunde zu, als er ihr mit seinem Schwert auf den Kopf schlug. "Ich habe so sehr geblutet, dass mein ganzes Kleid an meiner Haut klebte", berichtet die ehemalige Zwangsprostituierte.

Es quält sie, ihre eigene Geschichte zu erzählen, oft stockt sie, doch dann zwingt sie sich, weiterzusprechen. Won-Ok Gil erinnert sich, dass sie und ihre Leidensgenossinnen bis zu 50 Freier pro Tag bedienen mussten. Wurde eines der Mädchen schwanger, wurden die Babys brutal abgetrieben oder ihren Müttern weggenommen. Manche Schwangere wurden getötet, andere nahmen sich das Leben. "Ich lebe nur noch, weil ich gelernt habe, zu vergessen und zu verdrängen", sagt Won-Ok Gil.

Als Japan nach den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im September 1945 kapituliert, werden die Kriegsbordelle dichtgemacht, viele Trostfrauen aus dem heutigen Nord- und Südkorea, Burma, China, Ost-Timor, Indonesien, Japan, Malaysia, Papua-Neuguinea, den Philippinen, Taiwan und Thailand werden wie zerstörtes Kriegsgerät an der Front zurückgelassen. Die damals 18-jährige Gil gelangt mit einem Schiff in die südkoreanische Hafenstadt Incheon.

Gil, die erst vor neun Jahren Lesen und Schreiben lernte, schlug sich als Sängerin, Tagelöhnerin und Marktfrau durch. Sie adoptierte ein Baby - und schwieg. 53 Jahre lang. Die Scham hatte sie verstummen lassen. In der konservativen koreanischen Gesellschaft war vorehelicher Geschlechtsverkehr - egal, ob einvernehmlich oder bei einer Vergewaltigung - bis in die 90er-Jahre tabuisiert. "Aber irgendwann wurde mir klar: Nicht wir, die Opfer, sollten sich schämen, sondern die Täter und die Regierungen, die nicht bereit sind, dieses Unrecht anzuerkennen", sagt die Koreanerin, die heute mit elf anderen ehemaligen Trostfrauen in einem Altersheim in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul lebt.

Mittlerweile haben sich in Korea Tausende der Bewegung der alten Damen angeschlossen. Mehrere Hundert Menschen demonstrieren jeden Mittwoch vor der japanischen Botschaft in Seoul. Mit ihren Mitstreiterinnen ist Gil so zu einer schweren Belastung für die südkoreanisch-japanischen Beziehungen geworden.

Doch vor zweieinhalb Jahren verkündeten die Außenminister Japans und Südkoreas dann völlig überraschend eine "endgültige und unumkehrbare" Lösung der Trostfrauen-Frage. Tokio bot umgerechnet rund 7,5 Millionen Euro zur Unterstützung der ehemaligen Zwangsprostituierten an. Doch Won-Ok Gil und den anderen noch lebenden Trostfrauen reicht das allerdings nicht. "Dieses Abkommen wurde ausgehandelt, ohne uns einzubeziehen. Es ist eine Demütigung. Die Japaner nennen die Zahlungen ,Heilungsgeld', nicht Entschädigung. Aber wir fordern ein klares Schuldeingeständnis, eine aufrichtige Entschuldigung der Regierung und eine höhere Entschädigung", sagt Won-Ok Gil. Sie selbst hat das "Heilungsgeld" nicht angenommen.

Denn sie weiß genau, dass kein Geld der Welt ihre Wunden heilen kann. "Was mir und anderen Frauen angetan wurde, kann nie wieder gut gemacht werden. Aber eine ehrliche Entschuldigung würde uns helfen, endlich Frieden zu finden", sagt die ehemalige Trostfrau, die an Gott und die Kraft der Vergebung glaubt. Die Hoffnung, dass sie diesen Tag noch erleben wird, hat sie nicht aufgegeben. Won-Ok Gil: "Ohne diese Hoffnung könnte ich nicht weiterkämpfen. Und ich werde weiterkämpfen. So lange ich lebe."

Philipp Hedemann