Ausgeliefert

26.10.2015 | Stand 02.12.2020, 20:38 Uhr

Mit den Flüchtlingen kommen auch Täter und Opfer des Menschenhandels nach Deutschland. Eigentlich eine Chance, Strippenzieher zu überführen. Doch es fehlt an Personal. So droht Opfern in den Unterkünften neuer Missbrauch.

Es klingt einfach zu verlockend: "Komm nach Italien", sagt eine Bekannte, "da kannst du leicht viel Geld verdienen." Die zwölfjährige Nigerianerin Yamina, deren Mutter gerade gestorben ist, glaubt ihr oder will ihr einfach glauben. Sie lässt sich zu einem Priester mitnehmen, der sie mit einem Vodoo-Zauber belegt. Sie muss versprechen, niemandem ihr Vorhaben zu verraten. Was Yamina nicht weiß: Die Bekannte gehört zu einem nigerianischen Menschenhändlerring. In den kommenden zwei Jahren wird sie Yamina in Italien zur Prostitution zwingen.

Yaminas Schicksal ist bekannt, weil sie bei der Hilfsorganisation Solwodi Schutz suchte. Doch es gibt viele Frauen, die es in keine offizielle Statistik schaffen. Sie sitzen zum Beispiel im Flüchtlingscafé in München und sagen kein Wort, berichtet Monika Cissek-Evans von der Hilfsorganisation für Opfer von Frauenhandel, Jadwiga. Von selbst würden die Frauen gar nicht in das Café kommen. Jadwiga-Mitarbeiter suchen sie in den Flüchtlingsunterkünften, wo sie viele unerkannte Opfer von Menschenhandel vermuten. Oder auch Täter. Kürzlich trafen sich Experten auf der Bamberger Fachtagung „Menschenhandel und Asyl“, die unter anderem von der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung veranstaltet wurde. Es ging um die Frage, wie man die Täter und Opfer unter den 300 000 Flüchtlingen, die allein seit September in Bayern ankamen, identifizieren kann. Jadwiga-Mitarbeiter suchen in den Unterkünften nach den Frauen, die sich auf ihren Zimmern verstecken. „Sie sind schwer traumatisiert“, sagt Cissek-Evans. Nur selten, wenn sie viel Vertrauen gefasst haben, erzählen sie ihre Geschichte. Dafür braucht es lange, sensible Gespräche. Doch die Hilfsorganisationen haben nicht genug Personal, um annähernd überall zu sein, wo potenzielle Opfer sind. Die Polizei hat andere Prioritäten. „Wir können das nicht leisten, die Frauen aus den Kammern zu holen, damit sie sich offenbaren“, sagt Bernd Brinck vom bayerischen Landeskriminalamt. Bleibt noch das Personal, mit denen alle Asylsuchenden ohnehin in Kontakt kommen: die Asylentscheider. Doch sie erledigen diese Aufgabe neben den sich stapelnden Anträgen und nahezu ohne Qualifikation. Eine einmalige Schulung gab es, wie Angelika Schmitt vom Bundesflüchtlingsamt sagt. Wenig überraschend, dass dieses Jahr insgesamt nur 21 Verdachtsfälle an die Polizei weitergeleitet wurden. „Wir wissen aufgrund der Dunkelziffer nicht, wie viele es wirklich sind“, gesteht Schmitt ein. Frido Pflüger, Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, hält die Zahl für „lächerlich niedrig“. Aus seiner Arbeit mit Opfern von Menschenhandel weiß er, wie schwer es Opfern fällt, sich zu offenbaren. Als Beispiel nennt er eine Marrokanerin, die von den Eltern im Keller angekettet und an Männer verkauft wurde. Nach ihrer Flucht berichtete sie zunächst von „Problemen mit den Eltern“.

Der Handel mit der Ware Mensch ist extrem lukrativ. Die Hintermänner verdienen allein mit der sexuellen Ausbeutung weltweit rund 99 Milliarden US-Dollar pro Jahr, schätzt die zu den Vereinten Nationen gehörende Internationale Arbeitsorganisation. In Bayern gab es im vergangenen Jahr sicherlich weit mehr Fälle, als die Statistik sagt, heißt es bei der Ingolstädter Kriminalpolizei. Meist scheitert eine Ermittlung im Ingolstädter Rotlichtmilieu daran, dass die Frau am Ende doch nicht aussagt. Zu groß ist der Druck der Menschenhändler, zu groß die Angst vor den Behörden.

Sollten die Opfer es dennoch schaffen zu fliehen, erleben sie in deutschen Gemeinschaftsunterkünften womöglich die Fortsetzung ihres Albtraums. So gab es in Bayern Fälle, in denen Helfer verschiedene Männer dabei beobachteten, wie sie immer dieselben Frauen auf den Zimmern „besuchten“. Das bestätigt der Integrationsbeauftragte im bayerischen Landtag, Martin Neumeyer (CSU). Er berichtet von Frauen, die Helfern von Zwangsprostitution in den Asylunterkünften erzählen. Was kann man dagegen tun? „Männerbesuche zu verbieten ist schwierig, weil man dann alle unter Generalverdacht stellt“, sagt Neumeyer. Er setzt auf die Aufklärung der Opfer.

Jadwiga-Mitarbeiterin Cissek-Evans reicht das nicht. „Frauen sind in den Unterkünften nicht sicher, sie sind in der Unterzahl“, sagt Cissek-Evans. „Sie laufen Gefahr, als Puffer der Aggressionen der Männer missbraucht zu werden.“ Ihre Mitarbeiter treffen immer wieder auf ängstliche Frauen, die von Belästigungen berichten. Sie aus dieser potenziellen Gewaltsituation herauszuholen, ist jedoch schwierig, berichten Vertreterinnen der Hilfsorganisationen Solwodi und Jadwiga. Manchmal scheitere das an den Behörden, die zu langsam und bürokratisch agierten. Cissek-Evans fordert deshalb getrennte Unterkünfte für allein reisende Frauen und Männer.

 

Wenn Prostitution in Deutschland legal bleibt, wird auch der Menschenhandel bleiben, sagt Renate Hofmann. Die Leiterin der Solwodi-Beratungsstelle in Bad Kissingen hilft Zwangsprostituierten. Lesen Sie hier ein Interview mit Hofmann." domain="www.donaukurier.de" target="_blank"%>

 

Der Zentralrat orientalischer Christen in Deutschland (ZOCD) fordert sogar eine Trennung nach Religionen, besonders wegen der Gefahr für die Frauen. „Christinnen sind für Islamisten leichte Beute“, sagt ZOCD-Mitglied Paulus Kurt, der immer mehr verzweifelte Anfragen von Christen oder Jesiden erhält, die aus dem Bürgerkrieg geflohen sind. Eine christliche Familie habe sich zum Beispiel erst kürzlich an ihn gewandt: „Eine Gruppe muslimischer Somalier starrte in der Kantine die jungen Mädchen an, fing an, Fotos von ihnen zu machen und sie zu belästigen. Als der Vater einschreiten wollte, umzingelte ihn gleich eine ganze Bande.“ Mittlerweile hilft seine Organisation immer mehr Christen, eine andere Bleibe zu finden.

Auch die Nigerianerin Yamina lebt mittlerweile in einer Wohnung in Deutschland. Nach zwei Jahren in der Zwangsprostitution hatte sie 20 000 Euro ihrer „Schulden“ an die Menschenhändler zurückbezahlt – die Hälfte des fälligen Betrags. Doch erst als sie schwanger wird, wagte sie die Flucht. Denn als ihr Bauch immer sichtbarer wurde, zwang die Zuhälterin sie, eine Tablette zu schlucken, um das Kind abzutreiben. Sie hatte Glück, es überlebte. Yamina schaffte es nach Deutschland, bis vor die Tür der Hilfsorganisation Solwodi. Mittlerweile ist sie in Deutschland als Schutzberechtigte anerkannt. Weil für die Strafverfolgung die italienischen Behörden zuständig sind, wurde das Verfahren gegen ihre Peiniger eingestellt.