DGB-Vorstandsmitglied
Stefan Körzell zum Tag der Arbeit: „In Krisenzeiten ist sozialer Ausgleich umso wichtiger“

29.04.2023 | Stand 16.09.2023, 22:54 Uhr

Stefan Körzell, Mitglied des geschäftsführenden Bundesvorstands des Deutschen Gewerkschaftsbundes −Foto: dpa

Vor dem Tag der Arbeit am 1. Mai, der wieder in Krisenzeiten stattfinde, warnt DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell vor einer weiteren Vertiefung der Spaltung zwischen Arm und Reich als Folge von Corona und Ukraine-Krieg.

Ein 1. Mai in Krisenzeiten. Gehören die Beschäftigten angesichts von Rekordinflation und Kaufkraftverlusten zu den Verlierern?
Stefan Körzell: Sie hatten und haben zum Teil noch eine schwere Zeit. Bei vielen sind die Krisen umgehend durchgeschlagen – etwa über Kurzarbeit, manche haben ihren Arbeitsplatz verloren. Gerade bei den ungeschützten Minijobs war das der Fall. Wir Gewerkschaften haben uns dafür eingesetzt, die Auswirkungen der Krisen einzudämmen, und das ist uns auch in einer ganzen Reihe von Bereichen gelungen. Dennoch haben viele Beschäftigte harte Jahre durchgemacht und mussten zum Teil ran an ihre Ersparnisse.


Der Arbeitskräftemangel verschafft Arbeitnehmern eine stärkere Position. Wie wollen die Gewerkschaften das nutzen?
Körzell: Es handelt sich weniger um einen allgemeinen Arbeitskräftemangel, es fehlen vor allem Fachkräfte. Dabei fällt den Arbeitgebern das auf die Füße, was wir immer wieder kritisiert haben, nämlich, dass die Unternehmen seit Jahren nicht genügend ausbilden. Hier müssen Politik und Arbeitgeber schnellstens ran. Wir haben in Deutschland 2023 erstmals mehr als 2,5 Millionen junge Menschen zwischen 25 und 30 Jahren, die keine Ausbildung haben. Auch sie brauchen Chancen. Es ist gut, dass die Garantie auf einen Ausbildungsplatz nun kommen soll. Aber es ist schon so: Wir haben einen Trend in Richtung eines Arbeitskräftemarktes. Das verschafft den Arbeitnehmern eine bessere Position. Denen kann ich nur raten, dorthin zu gehen, wo gute Löhne gezahlt werden und gute Arbeit geboten wird. Das ist in der Regel da, wo Tarifbedingungen gelten.


Sehen Sie eine vertiefte Spaltung zwischen Arm und Reich als Folge von Corona und Ukraine-Krieg?
Körzell: In der Tat, die soziale Schere geht auseinander. Die Spaltung zwischen Arm und Reich nimmt zu. Die einen haben in Zeiten der Krisen immer mehr Reichtum angehäuft, während viele andere schauen mussten, wie sie über die Runden kommen. Deshalb ist ein sozialer Ausgleich umso wichtiger.


Gibt es Anzeichen für ein kälteres soziales Klima im Lande?
Körzell: Für die betroffenen Menschen ist es härter geworden. Deshalb muss die Politik handeln und dem entgegenwirken. Das ginge zum einen mit einer gerechten Steuerreform, die der Finanzminister leider ablehnt, aber auch über eine stärkere Unterstützung der vielen Menschen, die das brauchen. Ein Feld ist zum Beispiel die Kindergrundsicherung, die wir seit langem fordern und die die Koalition im Bund selbst als ihr zentrales sozialpolitisches Thema bezeichnet. Nun muss die Ampel aber auch liefern.

Tragen die Unternehmen Mitschuld an der hohen Inflation?
Körzell: Ja, nicht die Löhne befeuern die Inflation. Das haben uns jüngst der Sachverständigenrat, aber auch die Europäische Zentralbank bescheinigt. Statt der vielfach beschworenen Lohn-Preis-Spirale müssen wir über eine Gewinn-Preis-Spirale sprechen. Denn viele Unternehmen haben die Krisen genutzt, um ihre Preise über das durch die harten Fakten gerechtfertigte Maß hinaus zu erhöhen und damit mehr Gewinne zu machen. Daher fordern wir vom Staat eine Abschöpfung dieser ungerechtfertigten Extra-Gewinne, damit darüber ein Stück Ungerechtigkeit korrigiert wird.

Fürchten Sie eine Deindustrialisierung wegen zu hoher Kosten?
Körzell: Natürlich sehen wir diese Gefahr, gerade auch angesichts des riesigen US-Subventionsprogramms IRA. Unsere größte Sorge ist in diesem Zusammenhang die Aufwärtsentwicklung des Strompreises. Wir brauchen in Deutschland Maßnahmen, um den Industriestrompreis zu deckeln und die Betriebe damit im Land zu halten. Das sage ich insbesondere mit Blick auf die Grundstoffindustrie, die wir dringend benötigen. Andererseits müssen sich aber Firmen, die Standorthilfen erhalten, auch durch eine besondere Standorttreue auszeichnen.

Interview: Gernot HellerFoto: Michael Brandl