Exklusiv-Interview
Politologe Prof. Vorländer: Zusammenwachsen von Ost und West „eine Sache von Generationen“

28.09.2022 | Stand 22.09.2023, 5:10 Uhr |

Prof. Dr. Hans Vorländer −Foto: Klaus Gigga

Von Gernot Heller

Der Politologe Prof. Hans Vorländer von der TU Dresden, Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung, sieht keine dauerhafte Spaltung der politischen Befindlichkeiten zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Vielmehr sei das Zusammenwachsen eine Sache von Generationen.

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Die Bundesregierung hat ihren Bericht zu Ostdeutschland vorgelegt. Ist die Kluft zwischen Ost und West wieder größer geworden?

Hans Vorländer: Nach den vorliegenden empirischen Daten ist diese Kluft nicht generell größer geworden.

Wie kommt es, dass ostdeutsche Länder aktuell wieder mal das Zentrum des Protestes gegen die Politik der Bundesregierung bilden?
Vorländer: Wir haben seit einigen Jahren eine heftige Protestbewegung in Ostdeutschland. Das begann mit der Migrationskrise 2015, setzte sich fort über die Corona-Folgen – sehr anhaltend – und es gab viele lokale Proteste. Das Gleiche sehen wir jetzt beim Thema Inflation und Russland-Sanktionen. Dahinter verbergen sich eine ganze Reihe von Einzelentwicklungen: Die Unzufriedenheit bei vielen Menschen mit den aktuellen Zuständen, Unsicherheit über die weitere Entwicklung. Dabei ist die Verunsicherung wegen der verschiedenen, sich aufschichtenden Krisen deshalb besonders groß, weil man im Zuge der große Transformation nach 1990 schmerzvoll viele Phasen der sozialen und ökonomischen Veränderungen erlebt hat. Hinzu kommt, dass es in Ostdeutschland so etwas wie ein „politisches Unternehmertum“ speziell im rechtsextremen Lager gibt – AfD und andere – das gerade auf lokaler Ebene sehr rege bei der Mobilisierung von Protesten ist und die allgemeine Unzufriedenheit befördert.

Verwendet die Bundesregierung zu wenig Aufmerksamkeit auf die besondere Lage in den ostdeutschen Bundesländern?

Vorländer: Es gibt eine Grundenttäuschung, eine Kränkung bei vielen Menschen in Osten des Landes, bei denen der subjektive Eindruck entstand, dass weder der frühere Bundespräsident Gauck noch die Ex-Kanzlerin Merkel, beides Ostdeutsche, sich besonders für die Belange der neuen Länder eingesetzt haben. Das haben manche als Verrat an ostdeutscher Identität empfunden. Das verstärkte ein vorherrschendes Gefühl, dass man sich von den Politikerinnen und Politikern Westdeutschlands und den dortigen Medien nicht ausreichend wertgeschätzt fühlt. Im Besonderen gilt das für Menschen im Süden Ostdeutschland, also in Sachsen, in südlichen Teilen von Sachsen-Anhalt und Thüringen, die sich oft als Bürger zweiter Klasse empfinden. Viele von ihnen haben das Gefühl, zu wenig Anerkennung zu erfahren für das, was sie im Zuge der Umbrüche nach der Wiedervereinigung geleistet und erreicht haben.

Hat Corona, hat der Streit um Russland-Sanktionen und den Umgang mit dem Ukraine-Krieg die Kluft vertieft?

Vorländer: Die Corona-Krise hat sicher nicht generell die Kluft zwischen Ost und West vergrößert. Aber die Menschen im Osten sind länger als andernorts auf die Straße gegangen. Hier gibt es ein Kontinuum des Protestes. Nicht wenige haben die Corona-Maßnahmen als Bevormundung empfunden, und da sind sie nach den Erfahrungen aus Zeiten der DDR sehr empfindlich. Was Russland und die Ukraine angeht, da würde ich von einer grundsätzlichen Differenz zwischen Ost und West sprechen, was sich in einer größeren Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine und einer heftigeren Kritik an den Russland-Sanktionen äußert. Das hat mit der besonderen, wenn auch ambivalenten Beziehung zu Russland und den Russen zu tun, die man als Besatzungsmacht empfunden hat, der man sich aber auch – durch Literatur, Musik, kulturellen Austausch – verbunden fühlt. Man glaubt auch in Teilen, Russland besser zu verstehen als der Westen. Und auch Antiamerikanismus spielt eine Rolle.

Sehen Sie eine dauerhafte Spaltung der politischen Befindlichkeiten zwischen den alten und den neuen Bundesländern?

Vorländer: Das würde ich so nicht sagen. Das Zusammenrücken und Zusammenwachsen braucht auch über 30 Jahre nach der Vereinigung noch Zeit, ist eine Sache von Generationen. Aber man sollte auch wegkommen vom Denken nach den Kategorien Ost und West. Es gibt schließlich auch große Unterschiede zwischen Schleswig-Holsteiner und Bayern, zwischen Westfalen und Rheinländern und anderen Regionen. Und es gibt sie ebenso zwischen den ostdeutschen Regionen, etwa zwischen Sachsen und Mecklenburgern.

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