Die Ampel in der Dauerkrise: Ein Papier von Finanzminister Lindner für eine neue Wirtschaftspolitik sorgt für Aufruhr. Von einer „ultimativen Scheidungsurkunde“ ist die Rede. Lindner selbst beklagt, dass es durch „Indiskretion“ öffentlich geworden sei.
Ein Grundsatzpapier von FDP-Chef Lindner über eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik befeuert Spekulationen über ein baldiges Ende der Ampel-Regierung. Es wurde mitten im Streit der Koalition über den richtigen Kurs in der Wirtschafts- und Finanzpolitik bekannt. Politiker von SPD und Grünen machten umgehend deutlich, dass sie Lindners Papier nicht für hilfreich halten. Lindner selbst beklagte, dass das Papier über „eine Indiskretion“ öffentlich geworden sei. Es hätte zunächst nur im engsten Kreis der Bundesregierung beraten werden sollen, schrieb er in einer E-Mail an Parteifreunde, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Zuvor hatte „Bild“ darüber berichtet. Unionspolitiker forderten einmal mehr, den Weg für eine Neuwahl des Bundestags frei zu machen.
Forderung nach einer „Wirtschaftswende“ in Deutschland
In Lindners Papier wird eine „Wirtschaftswende“ gefordert mit einer „teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen“, um Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden. Es wird etwa als Sofortmaßnahme die endgültige Abschaffung des Solidaritätszuschlags auch für Vielverdiener, ein sofortiger Stopp aller neuen Regulierungen sowie ein Kurswechsel in der Klimapolitik gefordert. „Deutschland braucht eine Neuausrichtung seiner Wirtschaftspolitik“, heißt es. Diese solle grundsätzlicher Art sei. Damit distanzierte sich Lindner von Teilen der bisherigen Ampel-Politik.
SPD-Politiker kritisiert „neoliberale Phrasendrescherei“
Aus der SPD-Bundestagsfraktion kam laute Kritik an dem Konzept. Der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Martin Rosemann, sagte dem „Tagesspiegel“: „Wir brauchen jetzt keine Papiere, sondern gemeinsames Handeln, um der Industrie schnell zu helfen und Sicherheit zu geben. Vor allem brauchen wir keine Opposition in der Regierung.“ Der SPD-Abgeordnete Nils Schmid sprach von „neoliberaler Phrasendrescherei“. Die FDP bleibe Antworten auf die drängenden Fragen schuldig, etwa wie Industriearbeitsplätze bewahrt und der Industriestrompreis gesenkt werden könnten.
Nouripour: Jederzeit bereit, ernst gemeinte Vorschläge zu diskutieren
SPD-Generalsekretär Matthias Miersch enthielt sich einer inhaltlichen Bewertung der Vorschläge von Lindner, der auch Finanzminister ist. „Wichtig ist jetzt, dass der Prozess konstruktiv und lösungsorientiert von allen Beteiligten begleitet wird“, sagte Miersch den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Grünen-Chef Omid Nouripour äußerte sich ebenfalls zurückhaltend: „Wir Grüne sind jederzeit bereit, ernst gemeinte Vorschläge der Koalitionspartner zum Wohle unseres Landes zu diskutieren“, sagte er dem Nachrichtenportal „t-online“ und den Funke-Zeitungen. „Zum Ergebnis kommt man am Ende dann, wenn die Vorschläge der Ernsthaftigkeit der Lage gerecht werden.“
Deutlicher wurde der Vize-Fraktionschef der Grünen im Bundestag, Andreas Audretsch: „Das Papier ist eine Nebelkerze. Wichtiger wäre es, dass sich der Finanzminister um den Haushalt kümmert.“ Zum Haushalt für 2025 ist Mitte November eine entscheidende Sitzung des Haushaltsausschusses des Bundestags. Es müssen Milliardenlücken geschlossen werden.
Ampel streitet über Maßnahmen für die Wirtschaft
Die deutsche Wirtschaft steckt in einer Krise. In der Ampel gibt es unterschiedliche Vorstellungen über zusätzliche Maßnahmen, um die Konjunktur anzukurbeln. Dazu kommt die Frage, wie diese finanziert werden sollten. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte zu einem Industriegipfel geladen, zu dem aber weder Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) noch Finanzminister Lindner eingeladen waren. Die FDP-Fraktion hatte eine Art Gegengipfel mit Verbänden veranstaltet. Habeck wiederum hatte erneut einen milliardenschweren, schuldenfinanzierten Staatsfonds vorgeschlagen, um Investitionen von Firmen zu fördern.
Darauf nahm auch Lindner in seiner E-Mail an Parteifreunde Bezug. „Robert Habeck hat vergangene Woche seine Vorschläge zur Bewältigung der Herausforderungen inklusive eines kreditfinanzierten Sondervermögens öffentlich gemacht“, schrieb er. „Mit meinem Konzept schlage ich eine alternative Richtungsentscheidung für unser Land vor. Wir werden es im Gesamtkontext nun in Regierung und Koalition beraten.“
CDU-Politiker Frei hält Papier für „ultimative Scheidungsurkunde“
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Union im Bundestag, Thorsten Frei (CDU), sagte der „Rheinischen Post“ (Samstag): „Es wird Zeit, dass die Regierung endlich den Weg frei macht zu Neuwahlen. Es wäre der letzte Dienst, den sie unserem Land erweisen könnte.“ Frei bezeichnete Lindners Papier als „ultimative Scheidungsurkunde“. Nach dieser Klatsche könne Olaf Scholz wohl kaum zur Tagesordnung übergehen.
Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), der CSU-Politiker Manfred Weber, sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe: „Wir brauchen so schnell wie möglich eine handlungsfähige Bundesregierung und Neuwahlen in Deutschland.“ Der Ampel-Regierung werde es nicht mehr gelingen, Europa zusammenzubringen und maßgeblich zu stärken. „Ich sehe keine Führungsfähigkeit bei Kanzler Scholz mehr.“
− dpa
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