Nähen statt fliehen

09.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:43 Uhr

Foto: DK

Fast 8000 Tunesier haben im vergangenen Jahr das Mittelmeer in Schlepperbooten überquert - in der Hoffnung auf Arbeit. Die deutsche Entwicklungshilfe will deshalb Jobs in Tunesien schaffen und junge Afrikaner von der gefährlichen Fahrt abhalten. Ein Besuch.

Das Boot der Schleuser sollte gerade ablegen, als die schwerbewaffneten Männer der tunesischen Küstenwache auftauchten. Salem Fadhloun kletterte aus dem Kahn, rannte davon und versteckte sich. Einige der verzweifelten jungen Männer, die mit ihm ihr altes Leben riskieren wollten, um in Europa ein neues zu beginnen, nahmen die Beamten fest. Salem fanden sie in der Dunkelheit der Nacht nicht. Doch sein Traum war geplatzt. Schon wieder. Es war bereits das zweite Mal, dass der Tunesier nach Europa fliehen wollte. Heute denkt der 25-Jährige nicht mehr daran, abzuhauen. Salem hat in einem von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) geförderten Trainingszentrum eine Ausbildung zum Schneider gemacht, anschließend bei einer der größten tunesischen Textilfirmen angeheuert. Um Menschen wie ihn von der Flucht abzuhalten und um die junge Demokratie zu stärken, steckt die Bundesregierung jedes Jahr Millionen in die Schaffung neuer Jobs in Tunesien.

"Früher habe ich nur die coolen Typen gesehen, die nach ein paar Jahren in Europa mit viel Geld zurückkamen. Das wollte ich auch", erzählt Salem Fadloun, der vor sieben Jahren die Schule abbrach, um sein Glück im Ausland zu suchen. Kurz zuvor hatte sich der junge Gemüsehändler Mohamed Bouazizi mit Benzin übergossen und angezündet. Seine Selbstverbrennung löste nicht nur die tunesische Revolution, sondern den gesamten arabischen Frühling aus. Während in Libyen, Syrien und Ägypten auf die Revolution Chaos und Gewalt folgten, entstand in Tunesien eine fragile Demokratie.

Doch die erhoffte wirtschaftliche Dividende blieb aus. Das durchschnittliche monatliche Pro-Kopf-Einkommen sank von umgerechnet knapp 290 Euro (2011) auf rund 235 Euro (2017) und die ohnehin hohe Arbeitslosigkeit stieg weiter an. Vor allem junge Tunesier sind davon betroffen. Auf dem Land findet jeder zweite junge Erwachsene keine Arbeit, unter den Hochschulabsolventen ist die Quote oft noch höher.

Die Erhöhung der Mehrwertsteuer und Preissteigerungen bei Benzin, Kaffee und Tee führten im Januar zu den größten Protesten seit der Revolution. Zehntausende gingen auf die Straße, Hunderte wurden verhaftet, ein Demonstrant starb. Unter dem Druck der Straße versprach die Regierung Hilfe für die Ärmsten und bat die Bevölkerung um Geduld. Doch viele junge Menschen haben keine Geduld mehr. Fast 8000 Tunesier haben im letzten Jahr das Mittelmeer in Schlepperbooten überquert - so viele wie seit der Revolution nicht mehr.

Die meisten von ihnen riskierten ihr Leben in der Hoffnung, in der Fremde Arbeit zu finden. Dabei gibt es auf dem tunesischen Arbeitsmarkt rund 145 000 offene Stellen, für die tunesische und ausländische Arbeitgeber kein qualifiziertes Personal finden. Auch die Firma Sartex, die in der Küstenstadt Monastir unter anderem Kleidung für Hugo Boss, Ralph Lauren und Yves Saint Laurent herstellt, suchte lange geeignete Mitarbeiter - und fand sie nicht. Schließlich entschied das 3400 Mitarbeiter-Unternehmen sich, umgerechnet rund 1,5 Millionen Euro in das Trainingszentrum zu investieren, in dem auch Salem Fadhloun ausgebildet wurde. Die GIZ half Sartex dabei mit Beratung im Wert von rund 200 000 Euro. "Die Curricula der staatlichen Berufsschulen passen oftmals nicht mehr zu den Anforderungen des Arbeitsmarktes. Darum unterstützen wir unsere tunesischen Partner in der praktischen und theoretischen Berufsausbildung", sagt GIZ-Programmkoordinator Tobias Seiberlich im Sartex-Ausbildungszentrum. Rund 150 junge Frauen und einige Männer sitzen hier in langen Reihen an Nähmaschinen und lernen, wie man Hosen, Hemden und Röcke näht.

Dabei wollte die GIZ sich eigentlich schon längst aus dem im Vergleich zu vielen anderen afrikanischen Staaten relativ weitentwickelten Land zurückziehen, doch dann brach die Revolution aus und Tunesien wurde zum "Donor Darling", zum Liebling der internationalen Gebergemeinschaft. Während ihres Tunesien-Besuchs im März 2017 bezeichnete Angela Merkel das Land als "Leuchtturm der Hoffnung" für die arabische Welt. Denn in Tunesien soll gezeigt werden, wie zugleich Demokratie gefördert, Beschäftigung geschaffen und illegale Immigration bekämpft werden kann.

Dazu eröffnete Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) vor einem Jahr in der Hauptstadt Tunis das "Deutsch-Tunesische Zentrum für Jobs, Migration und Reintegration". Mehr als 1500 Männer und Frauen haben die Einrichtung seitdem besucht. Sie soll Tunesier unter anderem über Beschäftigungs- und Fortbildungsmöglichkeiten in ihrer Heimat informieren. Doch: "98 Prozent unserer Besucher interessieren sich zunächst für legale Migrationsmöglichkeiten nach Deutschland", sagt GIZ-Projektleiterin Aylin Türer-Strzelczyk. Aber Chancen auf einem Arbeitsvisum haben nur Tunesier, die etwas gelernt haben, was in Deutschland dringend gebraucht wird - Krankenpfleger zum Beispiel. 18 tunesische Pflegerinnen und Pfleger hat das Zentrum bislang auf ihren Einsatz in Deutschland vorbereitet.

Auch Rückkehrer sollen hier Hilfe beim (Wieder-)Einstieg in den tunesischen Arbeitsmarkt erhalten. Walid ist einer von ihnen. Über zwei Jahre schlug sich der 37-Jährige ohne Aufenthaltsgenehmigung in der Nähe von Hamburg durch. Um seiner Abschiebung zuvorzukommen, kehrte er nach Tunis zurück - als gescheiterter Mann. Ohne Geld, ohne Plan, ohne Perspektive. Schließlich landete er beim deutschen Zentrum für Jobs, Migration und Reintegration. Hier entwickelte er mit den mit den Mitarbeitern des Zentrums einen Businessplan - bald will er sein eigenes Café eröffnen. Für Beratung und Startkapital investiert die GIZ rund 5000 Euro in den Rückkehrer. Viel Geld. Doch sein eigenes Business, so die Hoffnung der Entwicklungshelfer, soll ihn in Zukunft davon abhalten, erneut nach Deutschland zu fliehen. An Deutschland denken, wird Walid jedoch weiterhin. Sein Laden soll "Café Reeperbahn" heißen. ‹ŒDK