München
Die verschiedenen Wahrheiten im Fall Mollath

Dokumentarfilm über das Schicksal des früheren Psychiatriepatienten feiert heute in München Premiere

25.06.2015 | Stand 02.12.2020, 21:09 Uhr

Foto: DK

München (DK) Nicht einmal das Grab seiner Familie ist ihm geblieben nach sieben Jahren in der Psychiatrie, in denen er Haus und Autos verloren hatte. Gustl Mollath steht auf einem Nürnberger Friedhof vor einem Stück Wiese: Vom Grab seiner Eltern und Großeltern ist nichts mehr zu sehen, der Grabstein wurde entfernt – „während ich verräumt war, in deutschen, bayerischen Krankenhäusern“, betont er.

In seinem Gesicht spiegeln sich Wut, Verzweiflung, Trauer. „Ich war vor Wochen das erste Mal da. Jetzt heul’ ich nicht mehr“, fügt Mollath leise hinzu und dreht der Kamera den Rücken zu.

Knapp zwei Jahre nach der Freilassung von Bayerns bekanntestem Psychiatriepatienten lässt ein Dokumentarfilm den Fall Mollath Revue passieren und kommt dem gebürtigen Nürnberger dabei ungeheuer nah. Heute feiert das 90-minütige Porträt „Mollath – Und plötzlich bist Du verrückt“ auf dem Filmfest München Premiere, am 9. Juli kommt der Dokumentarfilm in die Kinos.

Durch einen Zeitungsbericht waren die Münchner Filmstudentinnen Annika Blendl und Leonie Stade Anfang 2013 auf Mollath aufmerksam geworden. „Ein spannender Mensch, ein spannender Fall, darüber wollten wir einen Film machen“, erzählt Blendl im Gespräch mit unserer Zeitung. Ohne zu wissen, wie sich der Fall entwickeln würde, stürzten sie sich in die Arbeit. Als Mollath Monate später aus der Psychiatrie entlassen wurde, kontaktierten sie ihn. Er war sofort einverstanden, sich porträtieren zu lassen.

Der Film beginnt im Frühjahr 2013, als Mollath noch in der Forensik sitzt, sein Fall aber Politik und Medien intensiv beschäftigt. Er zeigt Mollaths erste Monate in Freiheit und reicht bis zum Wiederaufnahmeverfahren, aus dem er im Sommer 2014 als freier Mann hervorgeht – allerdings ohne die ersehnte volle Rehabilitierung.

Ein Jahr lang haben die jungen Regisseurinnen Mollath begleitet. Die Zuschauer erleben ihn beim Stadtbummel in München, beim nächtlichen Basketballspiel in Berlin, zu Hause bei der Pflege seiner in der Klinik gezogenen Dattelpalme, im Ferrari beim Autorennen in England. Zu sehen sind auch Mollaths Schwierigkeiten beim Fahrkartenkauf in der Trambahn, weil er Geldmünzen mit seltenen Motiven nicht hergeben mag, seine Tränen, wenn er in einer Kirche im Kerzenschein über seine Ex-Frau spricht. Immer wieder ist sein ungeheuerliches Schicksal Thema. „Wenn man Ihnen alles nimmt, dann ist es so, als hätten Sie nie gelebt“, sagt Mollath. Und an anderer Stelle: „Nicht einmal meinem ärgsten Feind möchte ich zumuten, was mir passiert ist.“ Nach und nach fügen sich kurze Sequenzen, Episoden, Beobachtungen, Meinungen zu einem Kaleidoskop dieses komplexen Falls zusammen. „Wir wollten kein investigatives Stück machen. Uns war wichtig, ein eigentlich journalistisches Thema dokumentarisch oder vielleicht auch künstlerisch aufzuarbeiten“, erläutert Stade. Und Blendl fügt hinzu: „Wir wollten in erster Linie das Menschliche zeigen.“

Dabei beschränken sich die Filmemacherinnen nicht darauf, nur Mollaths Sicht darzustellen. Sein damaliger Anwalt Gerhard Strate kommt genauso ausführlich zu Wort wie Journalisten, die Mollaths Unschuld infrage stellen. Seine Ex-Frau meidet zwar die Öffentlichkeit, dafür äußert sich der Bayreuther Reporter Otto Lapp, dem es gelungen war, mit ihr zu sprechen. „Wie überall im Leben gibt es zwei Wahrheiten“, sagt er im Film. „Eine davon spricht wie bei jedem Menschen eben auch gegen Gustl Mollath.“ „Spiegel“-Redakteurin Beate Lakotta betont, dass für sie immer noch mehr dafür als dagegen spreche, dass Mollath damals „so krank war, dass er zu Recht in die Psychiatrie gekommen ist“.

Bewusst verzichtet der Film auf ein abschließendes, eindeutiges Urteil. „Die Menschen sind es gewohnt, eine Lösung zu bekommen. Wir wollten ein bisschen gegen diese bestehende Konvention gehen“, sagt Stade. Und Blendl betont: „Es war uns wichtig, dass man die verschiedenen Wahrheiten sieht, die Graustufen.“