Ingolstadt
"Der Peter war in dem Flugzeug"

27.03.2015 | Stand 02.12.2020, 21:29 Uhr

Ingolstadt (DK) Irgendwann bricht ihm dann doch die Stimme, Tränen schießen ihm in die Augen. „Die Menschen sollen wissen, wer bei dem Flugzeugabsturz gestorben ist. Freunde, Bekannte sollen davon erfahren. Die Toten sollen ein Gesicht bekommen.“ Auch sein Bruder Hans Peter.

Uwe R. (Namen sind der Redaktion bekannt) hat sich schnell wieder gefasst. Der 50-jährige Ingolstädter - kurze dunkle Haare, freundliches Gesicht, tiefschwarzes Sweat-Shirt unter der blauen Daunenweste - erzählt von einem Ereignis, das die Welt sprachlos macht und für Unbeteiligte schon schwer zu ertragen ist. Das Leid der Angehörigen mag und kann sich niemand vorstellen. Uwe R. schwankt zwischen den Gefühlswelten. "Ich glaube, dass ich noch nicht wirklich realisiert habe, was passiert ist", sagt er. Fast entschuldigend dafür, dass er nicht als ständiges Tränenbündel dasitzt.

Hans Peter R., gebürtiger Ingolstädter, ist einer der 150 Menschen, die am Dienstag um 10.53 Uhr in der Germanwings-Maschine auf dem Flug 4U9525 von Barcelona nach Düsseldorf an einer Bergwand in den französischen Alpen umkamen. Der 56-Jährige war mit einer Spanierin verheiratet und lebte mit den beiden Kindern in der Nähe von Barcelona. Als Mitarbeiter eines weltweit agierenden japanischen Chemiekonzerns mit Sitz in Deutschland war er viel unterwegs. „Der ist geflogen wie andere Bus fahren“, sagt Uwe R. – und lacht ein wenig. Ein bisschen stolz auf den sechs Jahre älteren Bruder.

Vielleicht dachte Uwe R. auch deswegen erst nichts Böses, als seine Frau ihm den Telefonhörer in die Hand drückt und mit bebender Stimme sagt: „Der Peter war in dem Flugzeug.“ Am anderen Ende der Leitung die Schwägerin aus Barcelona. In welchem Flugzeug, habe er noch gedacht. Uwe R. kann sich Tage später an jedes noch so winzige Detail und jede Gefühlsregung erinnern. Er wird das alles wahrscheinlich nie wieder vergessen.

Seine Frau und seine Tochter haben im Fernsehen schon von der Tragödie in Südfrankreich erfahren. Er selbst bis dahin alles verschlafen. Nach der Nachtschicht hat der Arbeiter, der im Presswerk bei Audi tätig ist, sich wie jeden Tag seit zwölf Jahren hingelegt. Und ist auch an diesem Tag gegen 14 Uhr aufgewacht. Da war die Welt aber schon eine andere. Zwölf Stunden zuvor hat er seinem Bruder aus der „nächtlichen Mittagspause“ noch eine SMS geschrieben. „Ich habe plötzlich an ihn gedacht“, erinnert er sich. Er hat die Nachricht gespeichert und schaut sie immer wieder an. Ebenso wie die Anzeige, als sein Bruder das letzte Mal auf What’s App online war. Um 9.36 Uhr. Um 10.01 Uhr ist die Todesmaschine gestartet.

Die Stunden und Tage seit Dienstag vergehen für Uwe R. und seine Familie wie ein böser Traum. Nach dem erschütternden Telefonat aus Spanien folgt der schwere Gang zu seinen Eltern, die ein paar Straßen weiter wohnen. Nicht genau wissend, wie er es sagen soll, nicht wissend, wie seine Mutter und sein Vater auf die schlimmste Nachricht, die man Eltern überbringen kann, reagieren würden.

Inzwischen sind die beiden mit dem Zug nach Barcelona zur Schwiegertochter und den Enkelkindern gefahren. Diese Fahrt und eine persönliche Begleitung hat Lufthansa organisiert. „Sie kümmern sich um wirklich alles“, erzählt Uwe R. Und das von Anfang an. Es gibt Angebote für praktische Hilfe und Angebote für seelische Unterstützung. „Ich bin von diesem Unternehmen und auch von den staatlichen Behörden positivst überrascht.“ Das sei „bestes Krisenmanagement“, lobt Uwe R. Die Polizei war es, die der Familie die offizielle Nachricht überbracht hat, dass Hans Peter R. an Bord der Maschine war. Wie viele andere Angehörige wollten seine Eltern und er selbst dann aber nicht zur Unglücksstelle in Frankreich fahren. „Das macht einen nervlich wahrscheinlich kaputt, rüttelt alles noch mehr auf“, befürchtet er.

Und was empfindet er, wenn er die neuen Erkenntnisse über Andreas L. verfolgt, den Co-Piloten, der die Maschine wohl absichtlich in den Tod gesteuert hat? „Ich empfinde für ihn keinen Hass und habe keine Rachegefühle“, sagt Uwe R. Noch nicht. „Vielleicht kommt das noch“, sagt er. Bislang gehe es ihm vor allem darum, eine Antwort auf das „Warum“ zu bekommen.

In all dem Schmerz und Leid der vergangenen Tage erinnert er sich aber auch an einen kurzen Moment der Erleichterung. „Mein Bruder musste nicht acht Minuten leiden.“ Uwe R. hat sich neben vielen anderen Fragen immer wieder die nach den letzten Minuten an Bord gestellt. Was haben die Passagiere von der drohenden Katastrophe mitbekommen? Haben sie den gesamten Sinkflug über bis zum Aufprall der Maschine Todesangst durchlitten? Wohl nicht, wie Uwe R. nun erfahren hat. „Diese Vorstellung hat mich gequält“, sagt er. Gemeinsam mit Kollegen hat er darüber geredet. „Das wäre wie ein Crashtest. Wenn man mit einem Auto mit 270 Stundenkilometer acht Minuten geradeaus fährt, wissend, dass am Ende der Strecke eine Betonwand ist. Und es kein Entkommen gibt.“

In dem kleinen Ort in der Nähe von Barcelona, in dem sein Bruder lebte, trauert derzeit das ganze Dorf mit seiner Schwägerin und den Kindern. „Die Anteilnahme ist sehr groß.“ Uwe R. kommt in Ingolstadt hingegen selten zum Innehalten. Er hat einige Behördengänge hinter und noch weitere vor sich. Wann und wo es eine Beerdigung geben wird, weiß er nicht. Seine Familie und er müssen warten, bis sein Bruder identifiziert ist. Die spanischen Behörden haben bereits Haarproben seiner Nichte und seines Neffen für einen DNA-Abgleich genommen. „Die Sterbeurkunden stellen dann wohl die französischen Behörden aus“, hat er erfahren. „Es ist furchtbar“, sagt er, und seine Stimme zittert wieder. Dann denkt er rasch daran, dass seine Schwägerin mit nach Deutschland fliegen sollte, sich dann aber kurz zuvor umentschlossen hat. „Sonst wären die Kinder jetzt Vollwaisen.“

Uwe R. geht weiter zur Nachtschicht. „Arbeit ist Therapie für mich“, sagt er. Sonst würde er bis morgens durch alle Fernsehkanäle zappen, auf der Suche nach Neuigkeiten. „Das wäre nicht gesund.“ Seinen Kollegen ist er sehr dankbar. „Sie nehmen Rücksicht auf mich. Wir sind ein gutes Team.“ Die wichtigsten Menschen in diesen schweren Stunden seien jedoch seine Frau, seine Kinder, die Eltern, Verwandte. „Familie eben“, sagt er. Seit Dienstag um 10.53 Uhr fehlt einer aus diesem engen Kreis. Am Freitag wollte sein Bruder zu Besuch nach Ingolstadt kommen.