Ingolstadt
"Ich will ja keine Luxuspflege"

27.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:38 Uhr

Immer auf Hilfe angewiesen: Wenn Bernhard Kube Durst hat, bittet er seine Assistenzkraft Carmen Wagner um einen Schluck aus der Schnabeltasse. Der 50-Jährige befindet sich seit vier Jahren mit den Behörden im Rechtsstreit um die Finanzierung dieser Assistenz. - Foto: Hauser

Ingolstadt (DK) Das Recht eines Menschen mit schwersten Behinderungen auf ein selbstbestimmtes Leben - wo hat es seine Grenzen? Unser Bericht über den MS-kranken Winfried Glosser vom 1. März stieß auf großes Echo und zeigt: Das ist kein Einzelfall. Auch Bernhard Kube kämpft um Kostenübernahme für Assistenzkräfte.

Das Schicksal von Winfried Glosser, über das wir Anfang März berichteten, hat viele Menschen berührt.Auf den Artikel "Auf dem Abstellgleis" haben sich nicht nur etliche Bürger und ehemalige Freunde des Ingolstädters gemeldet, sondern auch andere Betroffene. Darunter Bernhard Kube: Auch er leidet an Multipler Sklerose (MS) und kämpft wie Glosser um Kostenübernahme der Assistenzkräfte, weil er selbstbestimmt leben möchte. "Pflegepapst" Claus Fussek aus München hat sich ebenfalls eingeschaltet und spricht von einer "dramatischen Situation".

Anders als Winfried Glosser, der gegen seinen Willen im Altenheim lebt, wohnt Bernhard Kube in Ingolstadt in den eigenen vier Wänden: Seine Eigentumswohnung hat er auf eigene Kosten barrierefrei und behindertengerecht umgebaut - mit Liftern in Bad und Schlafzimmer. Kube ist 50 Jahre alt und hat bis 2003 als Versicherungsmathematiker gearbeitet. Er hat früher Handball gespielt, die ganze Welt bereist, er liebt die Berge. "Ich möchte noch einmal mit der Zahnradbahn hinauf auf den Wendelstein."

Vor 20 Jahren bekam er die Diagnose MS, seit fünf Jahren sitzt er im elektrischen Rollstuhl. Er ist vollkommen auf die Hilfe anderer angewiesen: "Ohne Assistenzkräfte würde ich verdursten." Fünf verschiedene Mitarbeiter vom Arbeiter-Samariter-Bund Augsburg stehen ihm zur Seite - täglich 16 Stunden lang. Kostenpunkt: rund 9000 Euro pro Monat. "Nachts komme ich gut allein zurecht."

Als wir Kube daheim besuchen, ist Carmen Wagner bei ihm: Während er von seinem nun schon vier Jahre dauernden Kampf mit den Behörden erzählt, gibt sie ihm immer wieder aus einer Schnabeltasse zu trinken oder schiebt ihm ein Salbeibonbon in den Mund.

Der 50-Jährige ist aufgewühlt, weil er vor dem Interview noch einmal die wichtigen Schriftsätze durchgegangen ist. Manche Formulierungen gleichen im Wortlaut denen von Winfried Glosser, wie Kube beim Lesen des Zeitungsberichts bemerkte: "Da ist mir klar geworden, dass diese Entscheidungen bei der Stadt oder vom Bezirk nicht etwa individuell getroffen werden, sondern dass man sich dabei ganz offensichtlich an pauschale Vorgaben hält. Das finde ich respektlos."

Dabei wurde auch für Kube bis ins kleinste Detail der Pflegeleistungen und Minutentaktungen ein persönliches Budget errechnet, das sich auf monatlich 7234,93 Euro beläuft. Und auch bei ihm kommt die Behörde, in seinem Fall der Bezirk Oberbayern, zu dem Ergebnis: "Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist eine Heimunterbringung für Herrn Kube zumutbar." Kubes Kommentar: "Denen geht es nur ums Geld."

Das bestätigt auch Claus Fussek, der deutschlandweit bekannte Pflegekritiker, der sich nach dem Artikel im Fall Glosser eingeschaltet hat: "In der Pflege hatten wir schon immer eine Obergrenze", sagt er. In den Begründungen sei stets von "unverhältnismäßigen Mehrkosten" die Rede. "Die Entscheidungen treffen dann die Gerichte", so Fussek und erklärt, es gebe Altenheime, die sich aus ethischen Gründen weigerten, jüngere Menschen mit MS oder ähnlichen Diagnosen aufzunehmen - sogenannte "Fehlbeleger".

Fussek drückt es drastischer aus: "Da werden jüngere Menschen in Altenheimen endgelagert", sagt er. "Mit Menschenwürde hat das nichts zu tun, und wir sind uns alle einig: Niemand möchte so leben, und keiner findet das in Ordnung. Dabei kann es jeden treffen, jederzeit, etwa nach einem Unfall." Doch wie umgehen mit diesem Problem? "Pflege wird für uns die Schicksalsfrage der Nation", sagt Fussek, und er meint das nicht pathetisch.

Laut Fussek werden rund 70 Prozent dieser Menschen daheim von Familienangehörigen gepflegt. "Eine Riesenbelastung, denn ambulante Entlastungsstrukturen sind in der Regel unzureichend." Außerdem gebe es zu wenige Assistenzen, bei denen es sich meist um angelernte Laienkräfte handele. Die Qualität des Personals schwanke: "Je größer die Verzweiflung, desto niedriger die Ansprüche." Osteuropäische Haushaltshilfen, oft der deutschen Sprache nicht mächtig, würden mitunter sogar Medikamente verabreichen.

So eine 24-Stunden-Assistenz kostet viel Geld - bis zu 24 000 Euro im Monat. Claus Fussek vertritt einen radikalen Standpunkt: "Wir sollten zahlen, immer. Denn auch bei schwerstkranken Menschen stehen wir in der Pflicht, ihr Leben würdevoll zu gestalten."

Was aber meinen die Kostenträger? Der Bezirk Oberbayern berücksichtigt bei seinen Entscheidungen den Vorrang von ambulanten vor stationären Leistungen. "Wir entsprechen damit dem Wunsch- und Wahlrecht der nachfragenden Personen", heißt es auf Anfrage unserer Zeitung. Aber: "Die Wünsche müssen angemessen sein." Die Stadt Ingolstadt erklärt, "nach den gesetzlichen Vorgaben kann den Wünschen des Leistungsberechtigten dann nicht entsprochen werden, wenn deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre." Für jeden Einzelfall sei ein unabhängiges Fachgutachten einzuholen. Dieses sei rechtlich bindend, "es besteht somit kein Entscheidungsspielraum des Sozialamts". Maßgabe für die gewährende Hilfe sei "der tatsächliche und nicht der subjektive Bedarf".

Bernhard Kube allerdings hatte den subjektiven Eindruck, dass beim Erstellen seines Fachgutachtens sehr wenig Fachwissen über MS eingeflossen sei. Was ihn nicht verwundert: "Es geht nur ums Monetäre. Ich finde, Ingolstadt ist sozial sehr schlecht aufgestellt."

"Ich will ja nichts Besonderes - keine Luxuspflege", betont er. "Ich will nur daheim wohnen, am Leben teilhaben, einkaufen gehen, mein Essen selber aussuchen und abends mal in den Biergarten gehen." In einer Behinderteneinrichtung oder einem Altenheim zu leben, so wie Winfried Glosser, käme für ihn nicht infrage: "Das wäre für mich wie Knast fürs Gehirn."

Bernhard Kube wartet weiter auf seine Gerichtsverhandlung. Immerhin: Bis zum Urteil werden ihm die Assistenzen gezahlt. Wie es danach weitergeht, steht in den Sternen: "Über mir schwebt immer dieses Damoklesschwert, und die ewige Ungewissheit löst bei mir Schlaf- und Verdauungsbeschwerden aus, die mir das Leben massiv erschweren." Er bittet erneut um einen Schluck aus der Schnabeltasse, und dann sagt er: "Aber ich werde nie aufgeben, sondern bis zum Ende kämpfen. Ich habe mein ganzes Leben gekämpft."