Ingolstadt
Chance oder Zeitverschwendung?

18.02.2013 | Stand 03.12.2020, 0:29 Uhr

Leere Klassenzimmer könnte es viel früher als befürchtet in der Riedenburger Hauptschule geben. Der Geburtenrückgang macht sich auch in der Dreiburgenstadt deutlich bemerkbar. Da Klassen mit weniger als 15 Schülern nicht gebildet werden dürfen, droht den Schülern die Auslagerung nach Kelheim oder Ihrlerstein. - Foto: Zell

Ingolstadt (DK) „Pädagogisch sinnvoll“ nennen es die einen – von „Verschwendung von Lebenszeit“ sprechen die anderen. Wieder einmal gibt es Streit darüber, ob das Sitzenbleiben in der Schule eine sinnvolle Maßnahme ist oder nicht.

Der Auslöser für die Debatte liegt diesmal in Niedersachsen. Das künftige rot-grüne Regierungsbündnis hat im Koalitionsvertrag vereinbart, das Sitzenbleiben mittelfristig abzuschaffen – man will es „durch individuelle Förderung überflüssig machen“. Sofort tat sich ein Graben auf zwischen denen, die die niedersächsischen Pläne begrüßen, und denen, die sie für unsinnig halten.

Unterstützung bekommt die Koalition in Niedersachsen von SPD-Kultusministerkollegen in ganz Deutschland, unter anderem aus Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Hamburg. Ihre Argumente: Sitzenbleiben sei für die Schülerinnen und Schüler beschämend und demotivierend. Es sei unnötig, eine ganze Klasse zu wiederholen, wenn man nur in ein oder zwei Fächern Defizite habe. Sitzenbleiben sei eine Vergeudung von Lebenszeit. Mit mehr individueller Förderung, da sind sich die SPD-Politiker einig, könnte das Sitzenbleiben überflüssig gemacht werden.

Auch der Spitzenkandidat der bayerischen SPD, Christian Ude, würde das Sitzenbleiben abschaffen. „Ich habe es schon in meiner Schulzeit nicht begriffen, warum Mitschüler, die in einigen wenigen Fächern nicht mitkommen, alle Fächer wiederholen müssen“, sagt er.

Dem widersprechen konservative Bildungspolitiker heftig. „Populistischer Unsinn“, sagt Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU). „Das ist der Weg, der zur alten Klamotte Gesamtschule führen würde.“ Man dürfe das pädagogische Mittel des Sitzenbleibens „nicht ohne Not aus der Hand geben“, sagt Spaenle. Es gehe um mehr Lernzeit. Das Kultusministerium arbeitet auch an Konzepten für freiwillige Zusatzjahre. An der Grundschule testet der Freistaat derzeit ein Modell, nach dem Kinder ein Jahr länger lernen können. Auch am Gymnasium soll bei Bedarf ein zusätzliches „Intensivierungsjahr“ möglich sein. Auch der Chef des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, verteidigt das Sitzenbleiben. Es sei für die Schüler eine „Chance, Lücken aufzufüllen“ (siehe Interview).

Die Elternverbände sind sich uneins. Der Bayerische Elternverband liegt auf SPD-Linie: Wiederholen sei teuer; das Geld wäre in individuelle Förderung besser investiert. „Der Schüler hat vorher falsch gelernt, und wenn ihm niemand zeigt, wie es richtig wäre, macht er genauso falsch weiter“, sagt die Landesvorsitzende Maria Lampl. Dagegen findet der Elternverband Bayerischer Realschulen das Sitzenbleiben sinnvoll. „Wir tun den Kindern keinen Gefallen, ihnen ständig alles aus dem Weg zu räumen.“ Lernbereitschaft und die eigene Anstrengung gehörten zur Lebensbewältigung, sagt Verbandsvorsitzende Ingrid Ritt.

Ein wachsendes Problem ist das Sitzenbleiben indes nicht – im Gegenteil. Seit einigen Jahren gibt es in Deutschland immer weniger Schüler, die eine Klasse wiederholen. Im Schuljahr 2000/2001 wiederholten noch drei Prozent – 2010/2011 waren es nur noch zwei Prozent. In Bayern war der Anteil in dem Schuljahr allerdings mit mehr als drei Prozent deutlich höher. Insgesamt gilt: Jungen müssen häufiger eine Klasse wiederholen als Mädchen.

Und was bringt die Zwangswiederholung nun tatsächlich? Leider ist die Antwort darauf auch in der Wissenschaft nicht eindeutig. Im Jahr 2004 untersuchte das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) die Daten von mehr als 2500 ehemaligen Schülern der Geburtsjahrgänge 1961 bis 1973 und kam zu dem Schluss: Schüler, die einmal sitzen geblieben waren, hatten eine um fast 50 Prozent höhere Chance, einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen, als Mitschüler, die nie durchgefallen waren.

Eine andere Studie, eine gegensätzliche Erkenntnis: 2009 untersuchte der Bildungsforscher Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung die Ausgaben für Klassenwiederholungen in Deutschland. Darin kam er zu dem Schluss: Klassenwiederholungen seien „teuer und unwirksam“. Knapp eine Milliarde werde in Deutschland jährlich dafür ausgegeben, aber „weder die nicht versetzten Schülerinnen und Schüler noch diejenigen, die in der Klassengemeinschaft verbleiben, zeigen eine bessere Lernentwicklung“.

In die gleiche Richtung gehen auch Erkenntnisse an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU). Gabriele Gien, Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Hochschule, hat eine klare Meinung zum Sitzenbleiben: „Es bringt nichts.“ Nach ihrer Erfahrung hat das Wiederholen sogar negative Folgen: Das habe auch eine kleine Studie der KU gezeigt. „Die Schüler bekommen denselben Stoff vermittelt, ohne dass die Strategie im Unterricht geändert wird“, sagt Gien. Damit gehe sehr viel Effizienz und Zeit verloren, weil man sich nicht auf das einzelne Problem konzentriert. Zudem bekämen viele Schüler einen Knacks im Selbstbewusstsein, fühlten sich als Versager – und das häufig in einer Zeit, in der Pubertierende sowieso an sich zweifeln.

Um schlechte Leistungen in den Griff zu bekommen, ist es nach Meinung der Professorin wichtig, genau zu analysieren, wo die Ursachen und Probleme liegen. Ist es eine Lernschwäche in einem bestimmten Fach oder ist der Schüler einfach nur faul? Dann muss man individuelle Lösungen suchen. Das könnten zum Beispiel Brückenkurse am Ende der großen Ferien sein, in denen Strategien des eigenständigen Lernens vermittelt werden. Eine andere Möglichkeit wäre nach Giens Ansicht, differenzierte Lerngruppen mit Schülern auf dem gleichen Leistungsniveau zu bilden – ähnlich wie an einer Gesamtschule – in denen die Jugendlichen gezielt auf ihre Lernschwäche hin gefördert werden.

Aber nicht nur theoretische Konzepte seien wichtig, sagt Gien. Man müsse die Schüler auch motivieren, ihnen das Gefühl geben, selber etwas für den Lernerfolg tun zu können. Junge Menschen müssten auch in ihrer Persönlichkeit gestärkt werden, meint die Pädagogin. „Mit Sitzenbleiben werden Probleme nicht gelöst.“