Eichstätt
Hilde Lang (82) lebt ohne Strom- und Wasseranschluss

Zwischen Waldkauz und Wurzelsepp

30.07.2018 | Stand 02.12.2020, 15:58 Uhr
Das alte Waldhaus im Kreis Eichstätt ist für Hilde Lang immer Heimat gewesen, hier ist sie geboren und aufgewachsen. Im Bild ist sie mit etwa 20 Jahren zu sehen, zusammen mit zwei Ferienkindern. −Foto: privat

Eichstätt (DK) Hilde Lang (82) lebt ganz allein und abgeschieden in einem Forsthaus im Kreis Eichstätt, ohne Stromanschluss und Trinkwasserleitung. Hier ist sie geboren und aufgewachsen, hier will sie trotz mancher Mühsal bleiben.

Manche Geschichten erinnern an Märchen  – an das  der Großmutter etwa, wie sie allein in ihrem Haus im tiefen Wald wohnt und sich vom Enkelkind Kuchen und Wein in die Einsamkeit bringen lässt. Aber es gibt tatsächlich  reale Varianten, keine Fiktion. Hilde Lang lebt in einem  Waldhaus im Kreis Eichstätt, ohne Stromanschluss und Trinkwasserleitung, als wäre die Zeit vor 80 oder 90 Jahren dort stehengeblieben. Sie hat zwar vier Enkel, aber die müssen sich in diesem modernen Märchen gewiss nicht um die Oma kümmern.
 
Sie versorgt sich selbst, baut im Sommer ihr eigenes Gemüse an und liebt ihr idyllisches Domizil.
Seit 1932 wohnt Hilde Langs Familie hier, ihre Eltern waren damals dort eingezogen. Sie selbst war vier Jahre später in dem nur etwa vier  Meter breiten Haus zur Welt gekommen und ist hier aufgewachsen. Wer jetzt eine menschenscheue Frau erwartet, sieht sich bei einem Besuch der Einsiedlerin eines Besseren belehrt. Hilde Lang ist eine lebenslustige, humorvolle Person mit hellwachen Augen, die Lachfalten in ihrem Gesicht sprechen Bände. Die 82-Jährige vergräbt sich nicht in dem kleinen Waldhaus, dessen Standort sie trotzdem  nicht in der Zeitung lesen möchte. Nicht dass sie keine Gäste mag, im Gegenteil: Wer immer hier vorbeikommt, seien es Wanderer, Radler oder  Jägersleute, bekommt ein freundliches Wort von ihr.  Aber sie mag es eben auch, allein zu sein. 

Andreas Wagner, ihr Vater, hatte Zimmerer gelernt und verdiente sein Geld als Haumeister im Wald. Da erwies es sich als praktisch, gleich draußen im Forst zu wohnen. Ein sepiafarbenes Foto, aufgenommen im Herbst 1932, zeigt ihn kurze Zeit nach dem Einzug mit seiner Frau Anna und den Kindern Kreszenzia, Karl, Frieda und Andreas vor dem Haus. Ein Mann mit kräftigen Händen, die das Anpacken  gewohnt sind, die Mutter mit ernstem Blick, die ältere Tochter mit langen Zöpfen und einer kleinen Katze auf dem Arm, einer der Buben hält ein Lamm auf dem Schoß. Später sollen noch drei Kinder hinzukommen, darunter Hilde, die seit 15 Jahren nun wieder in dem Haus lebt. Oben, in der Schlafkammer, hat sie das Licht der Welt erblickt. Es müssen harte Zeiten gewesen sein, mit dem kargen Lohn eines Waldarbeiters alle Münder zu stopfen. „Aber gejammert hat keiner“ sagt Hilde Lang. „Jeden Tag ist der Vater  ins Holz und hat mit der Säge Bäume umgeschnitten; sommers wie winters.“ 
 
Eng ist es zugegangen bei den Wagners. Im Parterre gibt es eine kleine Küche, eine Speis und die gute Stube. Droben sind zwei Schlafzimmer, eines für die Eltern und eines für die Mädchen. „Die Buben haben auf dem Flur hinter einer Abtrennung geschlafen, gleich neben dem Hühnerfutter.“ Im Winter hängen mitunter Eisblumen an den Fenstern, alles ist klamm. Komfort sieht anders aus, aber wer braucht denn sowas? „Unser Vater hat manchmal Ziegelsteine im Ofen heiß gemacht, in Tücher gewickelt und uns dann ins Bett gelegt. Das war schön.“

An die Trinkwasserversorgung ist das Haus bis heute nicht angeschlossen. Hinter dem Gebäude gibt es einen Brunnen, dort läuft das Regenwasser zusammen. Sieben Meter tief, mit einem Durchmesser von zwei Metern. „Das Wasser haben wir über einen Kiesfilter gereinigt und es für alles hergenommen, zum Kochen, Trinken und zum Waschen“, erzählt die 82-Jährige. „Einmal im Jahr sind wir da mit dem Eimer und Schrubber runter und haben die Wände saubergemacht.“ Auch die Kinder müssen fest anpacken, unvorstellbar für die heutige Generation. Brennholz holen, kehren, der Mutter helfen, auf die Geschwister aufpassen, draußen auf dem Feld mitarbeiten – es gibt genug zu tun. Hildes Familie versorgt sich  selbst, baut Gemüse, Gerste, Kartoffel und Rüben an, im Stall stehen zwei Kühe, ein paar Schweine und das eine oder andere Schaf. „Wenn der Metzger-Gergl, wie der Georg bei uns geheißen hat, zum Schlachten gekommen ist, war das schon immer ein besonderes Ereignis“, weiß Hilde Lang noch. Einen Backofen gibt es auch, die vielen hungrigen Münder brauchen schließlich Brot. Öfen in der Küche, der Stube und im Obergeschoss bringen Wärme in die 50 Zentimeter dicken Mauern. Ein Kellergewölbe dient als Kühlschrank. 
 
Die Schule ist gut zwei Kilometer entfernt im nächsten Ort, besonders im Winter oder bei Regen und Wind eine Herausforderung. „Da sind wir mit der Laterne in der Hand allein durch den Wald gestapft. Manchmal haben wir uns schon gefürchtet, wenn uns Fuchs und Hase über den Weg gelaufen sind“, sagt Hilde Lang. „Die Mutter hat zwar den Weg ein Stück ausgeastet, damit wir nicht an den tropfenden Blättern entlang streifen, aber oft sind wir patschnass angekommen und haben dann zum Trockenwerden neben dem Kachelofen im Klassenzimmer sitzen dürfen.“ 

Damit das Geld reicht, bauen die Wagners 1948 die Wohnstube des kleinen Hauses in einen Gastraum um und eröffnen eine Wirtschaft. „Da hat es außer Bier nicht viel gegeben, höchstens Dauerbrezen und Hartwurst“, sagt Hilde Lang. „Und am Pfingstmontag hat der Vater ein Podium aufgebaut, und es ist Tanz angesagt gewesen. Zünftig war’s, von überall her sind die Leute zu uns gekommen.“ 
 
Hilde Lang war als junge Frau nach ihrer Hochzeit weggezogen. Das Waldhaus blieb aber stets ihre Heimat und in der Hand der Familie. Der Vater war 1962 gestorben, die Mutter 1987 – danach kümmerte sich einer der Brüder bis zu seinem Tod darum. Die 82-Jährige  – ihr Mann ist inzwischen ebenfalls tot – lebt 2003 wieder da, wo sie geboren ist. Im Gebälk hängt ein Wurzelsepp, nachts ruft der Kauz, ums Haus ist es stockfinster, das Gehölz knackt, wenn Rehe sich ihren Weg bahnen.
 
Hat sie denn keine Angst, so allein? Sie lacht. „Hier drin hab’ ich mich nie gefürchtet.“ Als einmal nachts ein Holzstoß krachend einfällt, geht sie nicht mal nachschauen. Sie besitzt zwar ein Stromaggregat und einen Fernseher, „aber die schalte ich nicht ein, weil das Programm eh nichts taugt“. Lieber stellt sie sieben, acht Kerzen ans Fenster und liest oder strickt. Eine Leidenschaft. „Im Winter kommen einmal die Woche zwei Bekannte, und wir stricken Jacken, Socken, Schals, Einkaufsnetze und was uns sonst so einfällt.“ 

Mit ihrem  Auto bleibt sie beweglich, einkaufen ist also kein Problem. Zum Wäschewaschen und Duschen fährt sie damit zu ihren Kindern, „ansonsten stelle ich mich raus und wasche mich halt am Brunnen.“ Obwohl sie noch „gut beinander“ ist, wie es in Bayern heißt, freut sie sich riesig, dass es neben den Kindern einige gute Freunde gibt, die ihr da und dort zur Hand gehen. „Dafür bin ich ihnen sehr dankbar.“  Denn mit dem Alter wird manches beschwerlicher. Aber nie und nimmer möchte sie das alte Waldhaus gegen eine komfortablere Wohnung anderswo tauschen – es ist ihr Leben hier  draußen, so lange es nur irgendwie geht.