Immer weniger aktuelle Zahlen
Kritik an dünneren Daten: Gerät die Pandemie aus dem Blick?

09.04.2022 | Stand 28.07.2024, 10:56 Uhr |

Als Sars-CoV-2 zu Beginn der Pandemie Forscher und Behörden weltweit elektrisierte, begann das große Datensammeln. Fallzahlen, R-Werte, später Impfquoten und Hospitalisierungsraten interessierten stark. Nun werden die Daten löchriger. Ist das schlimm?

Wie hoch ist die Inzidenz am Ferienort? Wie häufig wird derzeit getestet? Und wie entwickeln sich Virusvarianten etwa in Großbritannien? Bei vielen Fragen zur Pandemie konnten sich Forscher und Interessierte bisher international auf Daten stützen. Mit fallenden Schutzmaßnahmen und einem generell lockereren Umgang mit dem Virus in einigen Ländern könnte es damit bald schwieriger werden. Nicht nur die Menge, auch die Belastbarkeit und Aktualität der Daten dürften nachlassen.

Beobachter sehen bereits einige Einschnitte: Das Überwachen und Melden der Virusbewegungen beginne sich zu verlangsamen, und zwar wegen politischer Entscheidungen, fasste das Fachblatt „Nature“ kürzlich zusammen. Die Folgen könnten desaströs sein, hieß es. Dass die Überwachung vielerorts heruntergefahren wird, sei vergleichbar mit dem Absetzen von Antibiotika beim ersten Nachlassen der Beschwerden und erhöhe das Risiko eines bösen Rückfalls.



Datenübermittlung löchrig

In Deutschland haben erste Bundesländer aufgehört, an Wochenenden Fallzahlen an das Robert Koch-Institut (RKI) zu übermitteln. Eine Folge: Die Aussagekraft der tagesaktuell berichteten Neuinfektionen ist laut RKI am Wochenende und zu Beginn der Woche eingeschränkt. Um den Verlauf zu beurteilen, sei der Blick auf den Wochenverlauf zielführender. Auch die Zahl der durchgeführten PCR-Tests soll nur noch alle 14 Tage statt wöchentlich erscheinen, wie das RKI und der Laborverband ALM ankündigten.

Der Bremer Epidemiologe Hajo Zeeb blickt mit Sorge auf die nachlassende Informationsgüte und -menge: Es werde auf jeden Fall auch in der nächsten Zeit sehr wichtig sein, gute Zahlen zur Verbreitung des Virus und vor allem zum möglichen Auftreten neuer Varianten zu haben. „Für das Management etwa in Krankenhäusern bis hin zur Hotspot-Definition werden ja nicht weniger, sondern mehr, und noch wichtiger: bessere Daten benötigt.“

Deutschland ist kein Einzelfall



Deutlich größere Lücken sind in anderen Ländern absehbar. Die britische Regierung hatte etwa angekündigt, die öffentliche Förderung verschiedener Corona-Überwachungsstudien und Datensammlungen im Frühjahr auslaufen zu lassen. Auch der freie und kostenlose Zugang zu Schnelltests soll ab Anfang April nur noch besonders gefährdeten Gruppen gewährt werden.

Britische Gesundheitsexperten kritisierten das Vorhaben. „Die Datensammlungen vorzeitig zu beenden, ist falsche Sparsamkeit und muss möglicherweise rückgängig gemacht werden, um zukünftige Corona-Wellen zu bewältigen“, sagte der Experte für öffentliche Gesundheit, Azeem Majeed, vom Londoner Imperial College kürzlich. In einem Beitrag im Fachblatt „British Medical Journal“ bezeichneten Wissenschaftler und Mediziner die Strategie als „Spaziergang im Dunkeln“.

Dänemark ist ein weiteres Land, auf dessen umfassende Datensätze Forscher stets blickten, wenn sie wissen wollten, was etwa bei Virusvarianten bevorsteht: Im Kampf gegen die Pandemie hatte Deutschlands nördlichster Nachbar so viel getestet wie kaum ein anderes Land. Seit Anfang Februar praktisch alle Beschränkungen aufgehoben wurden und Covid-19 nicht mehr als gesellschaftskritische Krankheit betrachtet wird, wurden die Testkapazitäten dort jedoch massiv zurückgefahren: Noch Anfang 2022 wurden - bei rund sechs Millionen Einwohnern - wöchentlich 1,3 bis 1,6 Millionen PCR-Tests gemacht, in der vergangenen Woche waren es noch etwas über 100 000. Die dänische Gesundheitsverwaltung rät, sich nur testen zu lassen, wenn ein besonderer gesundheitlicher Grund vorliegt.

„Corona-Maßnahmen immer mehr politisch, ideologisch motiviert“



„Gesundheitspolitische Entscheidungen verlangen fundierte, belastbare Zahlen“, sagt der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch mit Blick auf die Situation in Deutschland. „Aber zur Wahrheit gehört, dass die Corona-Maßnahmen oft nicht auf Wissenschaft fußen, sondern immer mehr politisch, ideologisch motiviert sind.“ Bund und Länder hätten auch nach mehr als zwei Jahren kein effizientes Corona-Monitoring zustande gebracht. Für Krankenhäuser fehlten weiterhin verlässliche und aktuelle Daten. Dabei brauche man solche Informationen - auch um Hotspot-Regelungen zu begründen.

Epidemiologe Zeeb macht aber auch deutlich, dass man nun durchaus kritisch überlegen könne, welche Daten man weiterhin sehr zeitnah brauche - dazu dürften aus seiner Sicht etwa die zu Krankenhauseinweisungen und Intensivbelegung zählen. Er weist auch darauf hin, dass man nicht auf Jahre ein gleich hohes Testniveau aufrechterhalten könne: Gebraucht würden ergänzend zu Testergebnissen symptomatischer Patienten gute Ansätze von Überwachung an ausgewählten Standorten, regelmäßig und methodisch hochwertig (Sentinel-Surveillance).

Daten aus dem Abwasser



Perspektivisch könnte in Deutschland auch das Abwasser noch mehr über Corona verraten als bisher. Vorteile einer solchen Überwachung: Im Abwasser können Krankheitserreger durch die Ausscheidungen von Infizierten unabhängig von Tests und Krankheitssymptomen aufgespürt werden. Ein Pilotbetrieb an 20 Standorten in Deutschland ist von Februar bis April gestaffelt gestartet. Zweimal pro Woche werden Proben entnommen und auf verschiedene Biomarker untersucht. „Erste Ergebnisse an einzelnen Standorten könnten schon im Herbst 2022 vorliegen“, hieß es auf Anfrage beim RKI.

dpa

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