Ingolstadt
Wo Tante Luise Kasperl spielte

20.07.2018 | Stand 02.12.2020, 16:02 Uhr
Hochwertige Ausstattung: Der neue Veranstaltungssaal wurde nach früheren Befunden mit einer auffälligen Deckenbemalung gestaltet. Damals war Ochsenblutfarbe gebräuchlich. In dem repräsentativen Raum sollen Lesungen, Konzerte und museumspädagogische Aktionen stattfinden. Das Marieluise-Fleißer-Haus soll voraussichtlich im November 2019 eröffnen. −Foto: Hauser

Die Sanierung des Fleißerhauses in Ingolstadt ist nahezu abgeschlossen. Das mittelalterliche Gebäude hat seine Authentizität bewahrt. 2019 wird es als Museum mit neuem Leben erfüllt. War es einst Bauhütte der Oberen Pfarr?

Wie ein Schmuckstück glänzt  es in der Kupferstraße. Eine freundliche Fassade in hellem Grau,  Fenster spiegeln im Sonnenlicht, die hellen Räume wirken freundlich, das moderne Treppenhaus mit dem Fahrstuhl setzt neue Akzente, der schöne Innenhof, der  noch begrünt werden soll. Das   Geburtshaus der Marieluise Fleißer    hat sich in den vergangenen Jahren  aus Schichten von bröseligem Putz, hässlichem Linoleum, schäbiger Teppichware,  losen Brettern geschält  und erstrahlt nun in der  schlichten Schönheit einstiger Tage. Noch gehen die Handwerker ein und aus, um  die letzten Arbeiten zu verrichten, aber der Bauzaun ist schon weg. Manchmal stehen die  Türen  offen, dann werfen ganz Neugierige  einen Blick ins Innere:  Wann wird  das Museum  eröffnet? Sind noch Mietwohnungen frei? Auch zwei Besucher aus Berlin schauen sich schon einmal um: Sie bereiten in der Reihe „Literatur an Ort und Stelle“  ein Seminar über Marieluise Fleißer vor – dazu gehört selbstredend ein Besuch im sanierten Geburtshaus der bekannten Schriftstellerin aus Ingolstadt. Wo ist denn die berühmte Altane aus ihren Stücken? Fleißer-Neffe Hermann Widmann führt Gäste gern  herum. Keiner kennt  das  Haus so wie er, kennt die  Geschichte  und  Geschichten von seiner Tante Luise.
 
 Im Jahr 1861 erwarb der Geschmeidemacher Andreas Fleißer das Haus, das aus dem frühen 16. Jahrhundert stammen soll.   Im Erdgeschoss richtete   Fleißer,  Widmanns  Urgroßvater, eine Schmiedewerkstatt ein.  „Die Türbeschläge hat vermutlich  er selber geschmiedet“, sagt Widmann und fährt mit den Fingern über die starken Angeln. Die Tür ist etwas breiter, weil die  Kunden  seinerzeit auch ihre großen  Waagen in die Werkstatt brachten – Kartoffelwaagen, Kohlewaagen, Viehwaagen. „Die Betonplatte stammt von damals: Sie ist genau eben, weil die Waagen dort justiert wurden. Unter der Werkbank lagen die Zentnersteine. Jeden Dienstag ging’s zum Eichamt. Ich  hab’ als Bub alles mitgemacht“, sagt Widmann.
 
Alles ist so geblieben – die Werkstatt wurde nicht saniert. „Noch zu Zeiten meines Opas gab es einen handbetriebenen Blasebalg; den mussten die Lehrlinge bedienen, während mein Opa und der Geselle   mit den  Hammern geschlagen haben. Das klang  wie ein Glockenschlag, ein Ding-Dong, das  durchs ganze Haus ging“, erzählt Widmann. Er weiß noch genau, wo der Sandstein stand, die Poliermaschine oder der Schleifautomat für die Kreissägen.  Leider  ist der Platz für den Amboss leer: Das   200 Kilogramm schwere Teil wurde 2017 gestohlen. Widmann hat eine Belohnung ausgesetzt: Er will die Diebe nicht belangen, nur das Familienerbstück zurückbekommen.
 
Auf einem Mauervorsprung, unter einer Schicht aus Staub und Spinnenweben, liegt eine alte Kartoffelhaue. Solches Gerät wurde im Fleißer-Laden verkauft, der sich samt dem Lager ursprünglich im ersten Stock befand, später im Erdgeschoss: „Die Regale waren bis zur Decke voll mit Nägeln, Beschlägen, Haushaltsgeräten, Gartengeräten“, beschreibt Widmann die Szenerie. „In der Mitte stand der alte Ladenbuddel.“ Kaum vorstellbar, wie das alles in so einen kleinen, niedrigen Raum passte, der jetzt  vollkommen leer ist.
 
Ein Blick in die kleine Küche,  ins frühere Wohnzimmer. Widmann zeigt, wo damals Schreibtisch, Esstisch, Sofa und das Büffett standen. Und die Kommode vom alten Rechtsrat Ostermair. Dann geht es weiter  ins schmale  Kinderzimmer, ein Durchgangszimmer. „Hier im Türrahmen hingen, wie von meiner Tante beschrieben, zwei Stangen mit Vorhängen: einer oben, einer unten.  Da  haben wir Kinder Kasperltheater gespielt, das war eine Tradition. Meine Tante hat geschrieben, dass sie von den Nachbarskindern einen Pfennig gekriegt hat“, sagt Widmann und lacht: „Wir haben nix gekriegt.“ Weiter geht es ins Elternschlafzimmer: „Dort sind wir alle zur Welt gekommen.“
 
Alle Räume sind schlicht gehalten, nichts wurde groß verändert.   Die Hausbesitzer  waren lange auf der Suche nach dem  passenden Architekten, fanden ihn schließlich beim Tag des offenen Denkmals  in Plankstetten: Das Büro Kühnlein aus Berching war für die Sanierung und Erweiterung der dortigen Benediktinerabtei verantwortlich.  Architekt Michael Kienlein  vom Team Kühnlein beschreibt die Herausforderungen beim Fleißerhaus:  „Wir wollten das Gebäude in seiner Authenzität belassen und ihm nichts überstülpen. Darum nehmen wir uns als Architekten zurück: Das, was da ist, unterstreichen wir. Das Haus soll seine Ausstrahlung behalten.“
 
Der Versammlungsraum im zweiten Geschoss ist das  Prunkstück: Unter Brettern kam die alte Decke mit  mächtigen Holzbalken zutage. Ein Restaurator hat den Originalputz aus dem Jahr 1550 freigelegt: Seinen Vorgaben folgend ist die Decke nun wieder mit auffälligen breiten Farbstreifen  verziert. Das Rosa stammt von Ochsenblutfarbe – ein  zu der Zeit  gebräuchlicher Anstrich.  In diesem Raum will die Fleißer-Gesellschaft im November  ihre Jahresversammlung abhalten. Vorsitzender Kurt Finkenzeller ist begeistert vom Flair des Gebäudes: „Das ist vom Feinsten, das hat Charme und auch Substanz bekommen. Hier liegt nun eine große Chance, das kulturelle Leben der Stadt zu bereichern.“
 
Lesungen möchte die  Fleißer-Gesellschaft an  diesem Ort  veranstalten: „Literatur vermitteln“, wie Finkenzeller betont, „auch aus dem frühen 20. Jahrhundert. Kritische Volksstücke.“ Musikveranstaltungen sind ebenfalls geplant, wobei   an der  Akustik  noch  gefeilt werden muss.  Der große Raum war zuvor unterteilt, in dem kleineren Zimmer lebten früher, so erinnert sich Widmann,  sein Urgroßvater, nachdem er die Schmiede dem Sohn übergeben hatte,  und  später Tante Luise. Sie beschreibt den Blick aus dem Fenster auf den gegenüberliegenden Innenhof der Münsterschule, den die Mädchen besuchten. „Gegenüber stand das Bäckerhaus, und über der Backstube hat der Kunstmaler Knut Schnurer gelebt“, so Widmann.
 
Im Zuge der Sanierung stießen die Architekten auf Hinweise, die vermuten lassen, dass das Haus wesentlich älter ist als  angenommen. Dendrochronologische Untersuchungen der Holzbalken ergaben, dass das Haus bereits im Jahr 1401 errichtet wurde – auf herzoglichem Grund. Es wurden Ofen- und Wandkacheln  entdeckt, die  laut Widmann zwei Bilder zeigen: den geflügelten Löwen  und die Sonnenspiegel, das Wahrzeichen des  Königs von Frankreich, das auch Ludwig der Gebartete nutzte. Den Architekten fiel zudem auf, dass es sich um ein für damalige Zeiten sehr herrschaftliches Gebäude handelte: Die Räume sind groß, der Dachstuhl  über zwei Ebenen  ist in seiner Ausführung sehr hochwertig. Am Giebel der Kupferstraße 16 ist außerdem ein Kreuz zu sehen – das Zeichen für  kirchliche Gebäude. „Wenn man alles zusammennimmt“,  so Widmann, „ist es wahrscheinlich, dass es sich um die Münsterbauhütte handelt.“ 
Die Obere Pfarr wurde 1407 gegründet, der Bau der herzoglichen Kirche  zog sich  bis 1525 hin. „Danach gab es für das Haus  keine Verwendung mehr“, so Widmann. In der Ingolstädter Denkmaltopographie ist als erster Besitzer 1613 der Schlosser Andreas Limbach aufgeführt.  Das Fleißerhaus – einstmals Kirchenbauhütte? Das wäre eine kleine Sensation  –   und  ein weiteres Kapitel in der bewegten Geschichte dieses Gebäudes.