Von der Kette gelassen

Zwei Wissenschaftler aus der Region sind führend in der Erforschung des Immunsystems

24.05.2019 | Stand 02.12.2020, 13:53 Uhr
Spitzenforscher zum Anfassen: Die Medizinprofessoren Wolfgang Kastenmüller (links) und Georg Gasteiger, die Leiter der Würzburger Max-Planck-Forschungsgruppe, sind den Geheimnissen des Immunsystems auf der Spur. Die Bilder unten zeigen verschiedene Mikroskop-Aufnahmen von Immunreaktionen im Gewebe, die sie aufgenommen haben und auswerten. Ganz links eine Reaktion in der Haut, dann zwei Beispiele, wie sich zwei Zellarten im Laufe weniger Stunden für eine Immunantwort umorganisieren, das Foto ganz rechts zeigt, mit wie vielen Farbcodes unterschiedliche Zellen markiert werden können. −Foto: Auer/Institut für Systemimmunologie

Zwei Wissenschaftler aus der Region sind führend in der Erforschung des Immunsystems. Die Professoren Wolfgang Kastenmüller und Georg Gasteiger leiten ein neues Institut in Würzburg. Ihre Forschung dient der Bekämpfung verschiedenster Krankheiten - es geht nicht zuletzt um die Therapie von Krebs.

Krebs! Auf diese Krankheitsdiagnose hatte die Medizin seit den 1970er-Jahren im Wesentlichen nur zwei Antworten: die Chemotherapie und die Bestrahlungstherapie. Seit wenigen Jahren aber gibt es einen ganz neuen Ansatz, der Wissenschaftler auf der ganzen Welt elektrisiert, und auf den viele Patientinnen und Patienten mit verschiedensten Krankheiten ihre Hoffnung setzen: Es ist die Immuntherapie. Dabei wird, bildlich gesprochen, das Immunsystem "von der Kette gelassen". Das hat aktuell noch einige Nebenwirkungen - aber es gelingt damit, einen Teil der Patienten komplett zu heilen. Fieberhaft arbeiten seitdem Wissenschaftler daran, das Immunsystem besser zu verstehen, um diese Therapien weiterzuentwickeln. Erst im vergangenen Jahr erhielten zwei Forscher dafür den Medizin-Nobelpreis. Ein brandheißes Thema also, dessen Grundlagen immer weiter ausgelotet werden - und mittendrin stehen zwei Professoren, die ihre Wurzeln in der Region Ingolstadt haben: Wolfgang Kastenmüller (44) aus Ingolstadt und Georg Gasteiger (43) aus Paunzhausen im nördlichen Landkreis Freising. Der eine machte sein Abitur am Christoph-Scheiner-Gymnasium in Ingolstadt, der andere am Pfaffenhofener Schyren-Gymnasium. Nach langen wissenschaftlichen Wanderjahren in den USA und durch Deutschland leiten die beiden seit knapp zwei Jahren an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) die neu gegründete Max-Planck-Forschungsgruppe für Systemimmunologie.

Wolfgang Kastenmüller stammt aus einem bekannten Ingolstädter Bauunternehmen und wollte eigentlich Architekt werden und ins Baugeschäft einsteigen. Gasteigers Vater war Landarzt in Pfaffenhofen, der seinen Sohn wohl gerne in seiner Praxis gesehen hätte. Beide haben schließlich in München Medizin studiert - und landeten nach verschiedenen Auslandsaufenthalten in der Forschung. Bei der Doktorarbeit am Institut für Virologie der TU München lernten sie sich erstmals kennen - schnell wurde klar, dass sie beide ein Faible für die Erforschung des Immunsystems und von Infektions-Erkrankungen haben.

Jeder der beiden Wissenschaftler hatte bereits eine steile Forschungskarriere hinter sich, als der Ruf nach Würzburg kam. Kastenmüller hatte zu dem Zeitpunkt eine Professur an der Universität in Bonn inne, Gasteiger war Professor an der Uniklinik in Freiburg. Ihre Aufgabe: ein nagelneues Institut für Grundlagenforschung der "Systemimmunologie" aus dem Boden zu stampfen. Es ist ein wissenschaftliches Leuchtturmprojekt des Freistaats Bayern, angedockt an die Uni Würzburg - und im Optimalfall ein künftiges Max-Plack-Institut. 2023 soll sich nach einer strengen Überprüfung zeigen, ob die Max-Planck-Gesellschaft den Würzburgern ihren Segen endgültig gibt. Das wäre dann der Ritterschlag für innovative Forschungsansätze.

Die Grundsteine dafür sind gelegt. Kastenmüller und Gasteiger haben für ihre jeweiligen Forschungsschwerpunkte knapp 30 junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt um sich versammelt und mit ihrer Begeisterung angesteckt. Beide haben kürzlich hochdotierte Auszeichnungen des Europäischen Forschungsrates erhalten, damit sie ihre vielversprechenden Forschungen ausweiten können: Kastenmüller wurde von der EU auf Empfehlung eines Expertenteams mit dem gut 1,8 Millionen Euro dotieren Consolidator Grant ausgezeichnet, Gasteiger mit dem Starting Grant in Höhe von 1,5 Millionen. Diese sogenannten ERC Grants zählen zu den renommiertesten Fördermitteln in Europa.

Der zentrale Forschungsansatz der beiden ist, dass das Immunsystem komplexer agiert als lange gedacht. "Es gibt unglaublich viele Zelltypen und Faktoren, die mitwirken, im Immunsystem geht alles um die Interaktion der verschiedenen Mitspieler", erklärt Gasteiger. Permanent überprüfen verschiedene Zellen des Immunsystems in lokalen Netzwerken im Zusammenspiel mit den Zellen anderer Organsysteme, ob das empfindliche Gleichgewicht im Körper sauber ausbalanciert ist. Und nicht jeder Gegner lässt sich vernichten: Mancher muss lebenslang in Schach gehalten werden. Lässt die Wachsamkeit einen Moment nach, bricht die Krankheit aus - Gürtelrose ist ein klassisches Beispiel.

Die Würzburger verwenden ultramoderne Mikroskoptechnik, mit der sie verschiedenste lebende, eingefärbte Zelltypen im Gewebekontext sichtbar machen können - 10000 pro Sekunde - und in Echtzeit ihre Aktivitäten überprüfen können. Wer sich das im Film festgehaltene, eingefärbte Zellgewimmel ansieht, denkt automatisch an eine Ameisenkolonie. Immunzellen funktionieren "wie ein gemeinsam koordinierter Schwarm", sagt Gasteiger. Kastenmüller verwendet als Vergleich das Bild einer riesigen Menschenmenge bei einem Open-Air-Rockkonzert. Mal angenommen, man würde hier ganz allein sein "Date" finden müssen? Gäbe es eine Strategie? Genau diesen Strategien auf die Schliche zu kommen ist das, was die beiden so fesselt.

Jedenfalls ist auch für den Laien deutlich zu erkennen, mit welchem mehrstufigen und ausgeklügeltem System sich der Körper gegen Eindringlinge wehrt. Bildlich gesehen gehen permanent "Spürhunde des Immunsystems" im Körper auf Patrouille. Bei der Entdeckung eines Gefahrenherds nehmen sie nicht sofort den Kampf auf, sondern senden die Botschaft aus, mit welchem Feind es der Körper zu tun hat. In den Lymphknoten werden dann die passenden "Killerzellen" erst aktiviert und dann im großen Stil vermehrt. Es sind die sogenannten "Zytotoxischen T-Zellen". Bevor sie aber übers Lymphsystem an den Entzündungsherd geschickt werden, werden sie auf den individuellen Gegner in einem regelrechten Ausbildungsverfahren "programmiert". Dann erst ziehen sie los, kesseln die Eindringlinge ein, binden sich an sie und zerstören sie. Danach bleibt in diesem Bereich dauerhaft eine kleine, spezialisierte "Schutztruppe" zurück. Denn dem Frieden ist erfahrungsgemäß nicht zu trauen.

Auf der anderen Seite überprüft das Immunsystem in einem Kampf gegen Entzündungskeime auch unablässig, ob der Bogen im Eifer des Gefechts nicht überpannt wird und ob vielleicht sogar mehr Schaden angerichtet wird als Nutzen entsteht. Dann werden Immunzellen gemaßregelt oder auch auch abgezogen. Diesen Mechanismus zum Selbstschutz nutzen zum Beispiel Tumore aus, um sich vor dem Angriff des Immunsystems zu schützen.

In diesem Gleichgewicht - dem Aktivieren und Regulieren von Immunzellen - liegt letztlich der Schlüssel für die Behandlung vieler Erkrankungen - und für die Krebsforschung. Wie gelingt es, die T-Zellen "künstlich" zu aktivieren, wenn der Körper gut getarnte Tumorzellen einfach ignoriert?

Den Krebsforschern geht es heute darum, diese Mechanismen, diese permanente Kosten-Nutzen-Abwägung des Körpers, für eine kurze Zeit auszuschalten und passende T-Zellen zu aktivieren.

Umgekehrt kann es mit demselben Wissen auch möglich werden, ein völlig außer Rand und Band geratenes Immunsystem für bestimmte Reize in Ruhezustand zu versetzen, sozusagen auszuknipsen: zum Beispiel Asthma, Allergien, Autoimmunerkrankungen oder auch Schuppenflechte wären damit bekämpfbar. Kein Wunder, dass ein US-Amerikaner und ein Japaner 2018 für ihre Entdeckungen in diesem Feld den Medizin-Nobelpreis erhielten. Kastenmüller sagt dazu: "Wir haben den Beweis, dass das Immunsystem grundsätzlich umprogrammierbar ist, um auch fortgeschrittene Tumore zu bekämpfen. Riesige Metastasen sind einfach weggeschmolzen." Gasteiger meint: "Das gibt uns sehr viel Hoffnung - absolut."

Das Würzburger Team ist jung und international, Kastenmüller ist mit seinen gerade mal 44 Jahren der Älteste. Die Hierarchien sind flach, von professoralen "Halbgöttern in Weiß" fehlt jede Spur. Man trägt das Hemd gerne hochgekrempelt. "Wir haben eine Superstimmung", sagt Kastenmüller. "Es macht wirklich viel Spaß, denn jeder sieht, was man hier bewegen kann." Auch Gasteiger sagt: "Es ist sehr motivierend, dass diese Forschung unmittelbar praktische Konsequenzen hat. Der Bogen spannt sich von der Grundlagenforschung bis zum Patienten."

Und es gibt ja so viele Erkrankungen, bei denen letztlich Entzündungen das Problem sind - und die Lösung somit im Immunsystem stecken könnte: Malaria und Multiple Sklerose, Krebs und Formen der Schizophrenie, Aids sowieso. Am Ende sind dadurch fast alle klinischen Fächer verbunden.

Gasteiger und Kastenmüller, die beiden Professoren und Freunde: Man darf sie sich in Würzburg als glückliche Menschen vorstellen. Kastenmüller sagt: "Für uns ist das eine unglaubliche Gelegenheit - aber auch eine sehr große Verantwortung." Und das dann nicht irgendwo in Europa, sondern in Bayern - in der Nähe der Familie. Kastenmüller gibt unumwunden zu: "Ich freue mich, dass meine Kinder in Bayern aufwachsen." Und Gasteiger meint: "Das ist für uns beide schön. Ingolstadt und Pfaffenhofen, das ist von Würzburg aus alles leicht erreichbar. Es fühlt sich an wie heimkommen."
 

Zeuge der Katastrophe

Es gibt wenige Weltereignisse, bei denen jeder Zeitgenosse sofort sagen kann, wo er gerade war, was er gerade getan hat, als er davon hörte. Der Anschlag auf die Doppeltürme des World Trade Center in New York am 11. September 2001 gehört dazu. Wolfgang Kastenmüller, gebürtiger Ingolstädter und Medizinprofessor in Würzburg, aber hat einen ganz besonderen Bezug zu "9/11": Er war an diesem Morgen als junger Arzt im Praktikumsjahr - und das machte der damals 26-jährige in New York, im St. Vincent's Hospital Manhattan.

Kastenmüller erinnert sich noch genau an diesen Morgen. Die Ärzte, er arbeitete in der Chirurgie, freuten sich, dass sie die tägliche Visite bei ihren Patienten früher als üblich absolviert hatten - und so gingen sie gemeinsam nach draußen auf die Straße, um Frühstück für die Abteilung zu besorgen. "Auf einmal sind gleichzeitig alle unsere Piepser angegangen", erzählt Kastenmüller. Sein Chefarzt wusste, was das bedeuten musste: "Katastrophenalarm". Alle rannten zur Klinik zurück, es war bereits klar, dass es einen Anschlag auf den ersten Turm des World Trade Centers gegeben hatte. Man rechnete mit zahlreichen Verletzten, die nun gleich kommen würden. "Die Notaufnahme hat in der Straße gewartet - stattdessen kam das zweite Flugzeug", das von islamistischen Terroristen gekapert worden war und in den anderen Turm gesteuert wurde. Alles nur zwei Meilen von der Klinik entfernt. Kastenmüller erinnert sich noch genau: "Was alle geschockt hat, war, dazustehen und zu sehen, dass die Türme kollabieren. Damit hat keiner gerechnet." Und: "Dann war schnell klar, dass es quasi keine Patienten gibt, keine Überlebenden"- jedenfalls keine, die in den Türmen waren. Danach wurde das St. Vincent's Hospital bekannt durch die unzähligen Fotos von Vermissten, die hier gesammelt wurden und am Ende eine gesamte Außenwand der Klinik bedeckten: als "Mauer der Hoffnung und Erinnerung". So war auch für Wolfgang Kastenmüller "9/11" eine persönlich sehr prägende Erfahrung. Die traditionsreiche Klinik würde man heute allerdings vergeblich suchen. Sie ging in Konkurs und wurde abgerissen.