Grausames Ritual

Durch Migration kamen mehr als 13000 Mädchen nach Deutschland, die akut von Genitalverstümmelung bedroht sind

12.07.2018 | Stand 23.09.2023, 3:42 Uhr
Aufklärung ist wichtig: In Burkina Faso wirft eine Beschneiderin öffentlich ihr Messer weg. Weltweit sind mehr als 200 Millionen Mädchen und Frauen Opfer von Genitalverstümmelung. −Foto: Korn, Koltermann/dpa

Die Autorin Fadumo Korn aus München kämpft mit dem Verein Nala dagegen. Das Motto: Bildung statt Beschneidung.

Wie kann eine Frau durch eine stecknadelgroße Öffnung in ihrer Scheide ein Kind zur Welt bringen? Wie soll eine Hebamme durch dieses winzige Loch ertasten, wie weit der Muttermund schon geöffnet ist? Wenn Fadumo Korn schildert, wie furchtbar Frauen ihr Leben lang unter Genitalverstümmelung leiden, wie höllisch die Schmerzen sind und wie groß die seelische Pein, dann kommen ihren Zuhörerinnen meist die Tränen. So wie kürzlich bei einem Vortrag in Ingolstadt. Die Autorin Fadumo Korn schätzt, dass allein in München rund 3000 betroffene Frauen leben - Geflüchtete und Migrantinnen aus Afrika. Im Landkreis Pfaffenhofen steht jetzt eine Schwangere kurz vor der Geburt - es läuft wohl auf einen Kaiserschnitt hinaus, weil die Ärzte kein Risiko eingehen wollen.

Fadumo Korn kennt den Schmerz, die Qualen, die Ängste. Sie wächst in Somalia als glückliches Nomadenmädchen auf. Sie kennt kein festes Zuhause und versorgt die Schafherde der Familie. Als sie sieben Jahre alt wird, ändert sich plötzlich alles: Endlich soll sie eine richtige Frau werden. "Wir machen einen schönen Tag für dich", verspricht ihr die Mutter. Das Mädchen bekommt süße Milch mit einem Schuss Tee und Fladenbrot. Als Geschenke liegen ein schönes Tuch und neue Sandalen bereit. "Doch plötzlich schnappten mich ein paar Frauen." Sie hört ihre Mutter noch sagen: "Sei ein artiges Kind, mach' mir keine Schande und schrei' nicht."
Dann geschieht alles ganz schnell. "In meinem Kopf explodiert ein unsagbarer Schmerz - ein Schmerz, den ich auch nach fast 50 Jahren noch immer deutlich fühlen kann. Ich würde am liebsten aus meinem Körper fahren und werde ohnmächtig. Nach dem ersten Schnitt bin ich nicht mehr ansprechbar, hab' nicht mehr gefühlt, was noch getan, geschnitten und zusammengenäht wurde."

Alles tut weh - aber dann erst beginnt die eigentliche Tortur. Da Blut und Urin nicht abfließen können, wird Fadumo erneut beschnitten und zugenäht. Die Wunde entzündet sich. Die Mutter kauft schon ein Leichentuch für ihre Tochter. Doch Fadumo stirbt nicht. Aber sie kann nicht mehr mit den Nomaden durch die Wüste ziehen, und so schickt die Familie sie zu einem Verwandten nach Mogadischu. Dort geht sie später auch zur Schule.

Seit 1979 lebt die Somalierin nun in München. "Aber noch heute habe ich gesundheitliche Probleme, die sich eindeutig auf die Beschneidung zurückführen lassen. Ärzten in Somalia und in Europa verdanke ich, dass ich heute ein glückliches Familienleben mit meinem Mann und meinem Sohn führen kann."

Nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation sind 200 Millionen Frauen von Beschneidung betroffen - und jedes Jahr kommen 3 Millionen dazu. Trotz Gesetzen, die diesen grausamen Brauch verbieten, der nichts anderes verfolgt, als Frauen die Sexualität zu rauben. Frauen, die nicht beschnitten sind, werden bis heute geächtet, geschlagen, vergewaltigt. Sie sind eine Schande für die Familie und können nicht verheiratet werden. Sie gelten als unrein, schmutzig und dürfen nicht den Koran oder die Bibel berühren.

So wird Genitalverstümmelung bis heute praktiziert - sogar in Deutschland, wie Korn berichtet. "Natürlich nicht die große, pharaonische Beschneidung, bei der Schamlippen und Klitoris entfernt werden. Das würde ja auffallen, weil ein Mädchen danach schwer verletzt wäre", sagt die 54-Jährige. "Meist wird die Sunna gemacht, bei der die Vorhaut der Klitoris entfernt wird."

Fadumo Korn kämpft seit Jahren als Vorsitzende des Vereins Nala (Bildung statt Beschneidung) gegen Genitalverstümmlung, sorgt so für Aufklärung und hilft den Opfern. "Diese Frauen haben viele Beschwerden: Sie haben Rückenprobleme, Schmerzen während der Periode, sie bekommen oft Harnwegsentzündungen und Pilzinfektionen. Oft leiden sie auch unter Magenbeschwerden und übergeben sich häufig. Diese Frauen brauchen mehr Zuspruch und Unterstützung. Aber kein Mitleid. Mitgefühl ist schön."

Vor allem auch seitens der Ärzte. "Wenn eine beschnittene Frau vom Gynäkologen untersucht wird, dann dauert das 20 Minuten länger als normalerweise. Schon der normale Abstrich ist aufwendig, denn er muss mit einem Wattestäbchen gemacht werden", schildert Korn. "Die Frauen haben auch unfassbare Angst, überhaupt auf den Stuhl zu steigen und die Beine zu spreizen. Manche werden ohnmächtig, so groß ist die Angst vorm Arzt."

Besonders erniedrigend sei die Prozedur beim Bamf. "Von den Frauen wird gefordert, einen Nachweis über die Art ihrer Beschneidung und ihrer Beschwerden zu erbringen", sagt Fadumo Korn und kritisiert: "Menschen so zu behandeln ist rassistisch. Die Frauen werden begutachtet wie ein Stück Fleisch." Sie berichtet vom Fall einer Familie aus Nigeria, die aus Angst um die Sicherheit ihrer fünf Töchter nach Deutschland floh. Die Schwiegermutter sei hinter den Töchtern her. Ein Mädchen habe sie schon erwischt, es sei beschnitten worden. "Aber das Bamf sagt, nachdem die Mutter nicht beschnitten wurde, sei es ja möglich, sich zu schützen. Die Familie könne ja in der Hauptstadt Lagos untertauchen. Deshalb wurde der Asylantrag abgelehnt. Das macht mich so wahnsinnig, dass ich nachts nicht schlafen kann. Immer überlege ich, wie ich die Mädchen retten kann."

Bis zu zwölf Stunden täglich widmet Fadumo Korn ihrem Kampf. Sie schreibt Bücher und hält Vorträge. "Ich bettele auch ständig um Geld für Projekte", sagt sie. "Wir finanzieren alles komplett über Spenden." Nach langem Ringen ist es der engagierten Frau immerhin gelungen, eine Festanstellung in einem Verein für Migrantinnen zu bekommen. Und sie ist für den Deutschen Ehrenamtspreis 2018 nominiert. Das Bundesverdienstkreuz hat sie schon.

Nun also eine weitere Auszeichnung. Was sich Fadumo Korn aber wirklich wünscht, ist Respekt für ihre Arbeit. Und finanzielle Anerkennung. Und dass die Krankenkassen den betroffenen Frauen endlich auch eine Rekonstruktion durch plastische Chirurgie erstatten. Es gebe die Möglichkeit, es gebe Ärzte in München, die das können. "Damit die Frau sich selber wieder schön finden kann."

Suzanne Schattenhofer