Früher Sittenwacht, heute Lebensretter

Die Bergwacht Bayern feiert mit einer Ausstellung in München ihren 100. Geburtstag

31.08.2020 | Stand 23.09.2023, 13:51 Uhr
Eine Besucherin wird für den virtuellen Rettungseinsatz fertig gemacht: Dank einer VR-Brille, einem Lautsprecher und einem Ventilator kann sie diesen dann hautnah erleben. −Foto: Stäbler

München - Der Bergesack ist derart zugeschnürt, dass man sich kaum regen kann.

Von oben dröhnt das Rattern des Hubschraubers hinab, die Rotorblätter blasen Wind ins Gesicht. Im nächsten Moment verspürt man einen Ruck, und der Bergesack hebt sich empor - gezogen von einem Stahlseil, dessen Ende im Nebel verschwindet. Ein Blick nach links zeigt schroffe Felswände; auf der rechten Seite reihen sich Berggipfel aneinander. Von irgendwoher dringen Funksprüche ans Ohr, gefolgt von der nahen Stimme eines Bergwacht-Helfers: "Sicherheit, okay! "

Ein Rettungseinsatz. In den Bergen. So wie er in Deutschland dutzendfach vorkommt - am Tag. Fast 9000 Einsätze hat die Bergwacht Bayern 2019 verzeichnet, zumeist in den Alpen, aber auch in den Mittelgebirgen des Freistaats. In circa 1600 Fällen rückten die Retter mit dem Hubschrauber an, so wie sie es auch hier und heute tun. Wobei: Diesen Hubschrauber und diese Retter gibt es nur in der digitalen Welt. In sie können die Besucher des Alpinen Museums in München eintauchen, nachdem sie in einen originalgetreuen Bergesack geschnürt wurden und eine Virtual-Reality-Brille aufgesetzt haben. Das Rattern des Hubschraubers kommt aus dem Lautsprecher; für den Wind der Rotorblätter sorgt ein Ventilator an der Decke. "Die Rettung" heißt diese Virtual-Reality-Installation des Bayerischen Rundfunks, die den Besucher in die Rolle eines Verletzten bei einem Bergwachteinsatz versetzt.

Die virtuelle Rettungsaktion ist fraglos der imposanteste Teil der Jubiläumsausstellung "100 Jahre Bergwacht", die derzeit im Alpinen Museum auf der Praterinsel zu sehen ist. Doch auch über das Brillen-Spektakel hinaus haben die Macher auf beengtem Raum - gerade mal 100 Quadratmeter umfasst der Ausstellungsraum - einen kurzweiligen Streifzug durch die Geschichte der Rettungsorganisation zusammengestellt.

Deren Gründer hatten ursprünglich etwas ganz anderes im Sinn als abgestürzte Wanderer und verunglückte Skifahrer zu bergen. Vielmehr ist die Bergwacht anfänglich als Sittenpolizei gedacht. Hintergrund ist der zunehmende Strom von Touristen in den Alpen nach dem Ersten Weltkrieg, deren Verhalten vielen alteingesessenen Bergfexen sauer aufstößt. In einem Artikel der Allgäuer Zeitung liest man etwa von einem "jüngeren Frauenzimmer" auf dem Anstieg zum Stuiben, "dessen ganze Toilette - außer in Stiefeln und Strümpfen - nur in einem Badetrikot bestand". Im Weiteren klagt der Autor: "Unsere herrliche Bergeswelt darf doch nicht zum Tummelplatz schamlosen Gelichters werden. "

Um dem "Sitten- und Werteverfall" in den Alpen und Mittelgebirgen entgegenzutreten, gründen einige Wanderfreunde um Fritz Berger im Juni 1920 im Münchner Hofbräuhaus die Bergwacht Bayern. Deren Mitglieder nehmen sich fortan schon in den Zügen gen Süden "Raufbolde und sonstige rücksichtslose Elemente" vor, wie die Zeitschrift "Bergkamerad" 1929 berichtet. Überdies gehen die Alpinisten am Berg gegen Müllsünder, Naturfrevler und Pflanzenräuber vor, wobei Letztere 1925 gar den "Oberstdorfer Bergwachtkrieg" rund um illegal gerupften Edelweiß auslösen.

Da die Sittenwächter bei ihren Rundgängen immer wieder Erste Hilfe leisten und verunglückte Touristen bergen müssen, kommt 1923 der Sanitätsdienst als weitere Aufgabe hinzu. In der Folge entwickelt sich die Bergwacht zunehmend zu einer Rettungsorganisation. Anfangs ist sie Teil des Deutschen Alpenvereins; nachdem dieser 1945 als nationalsozialistische Organisation verboten wird, rückt sie unter das Dach des Bayerischen Roten Kreuzes. Heute gliedert sich die Bergwacht Bayern in die sieben Regionen Allgäu, Bayerwald, Chiemgau, Fichtelgebirge, Frankenjura, Hochland und Rhön-Spessart. Dort gibt es 111 Bereitschaften, an denen circa 5200 ehrenamtliche im Einsatz sind.

Rückten die Retter anfangs noch mit Holzschlitten und simplen Seilwinden aus, so steht ihnen heute die neueste Technik zur Verfügung. Um diese Entwicklung geht es ebenfalls in der Ausstellung, die beispielhaft auf die erste Lebendrettung aus der Eiger Nordwand 1957 eingeht, bei der 70 Alpinisten aus fünf Ländern den Italiener Claudio Corti bargen, während drei andere Bergsteiger starben.

Zuletzt wirft die Ausstellung noch einen Blick in die Zukunft der Bergwacht - und auf ihre stetig steigenden Einsatzzahlen. Diese seien im Winter seit Jahren stabil, berichtet Landesvorsitzender Otto Möslang (kleines Foto). Im Sommer hingegen zähle man heute doppelt so viele Einsätze wie noch vor zehn Jahren. "Der Klimawandel lässt sich nicht wegdiskutieren", sagt Möslang. Infolgedessen müsse sich die Bergwacht auch auf neue Unfallszenarien einstellen, etwa bei Waldbränden, Hochwasser oder Starkschnee.

Darüber hinaus erlebe man in diesen Corona-Zeiten "einen unglaublichen Ansturm auf die Berge", sagt Möslang, "vor allem in den Mittellagen". Für seine Bergwacht bedeutet das noch mehr Arbeit als sonst - nicht etwa in der virtuellen, sondern in der realen Welt.

DK

Patrik Stäbler