"Das Bild von 1968 ist ein Riesenbluff"

Bettina Röhl präsentiert ihr Buch "Die RAF hat Euch lieb"

02.11.2018 | Stand 02.12.2020, 15:19 Uhr
Die Republik im Aufruhr: Studentenführer Rudi Dutschke marschiert 1968 in Berlin an der Spitze eines Demonstrationszuges gegen den Vietnamkrieg. Es war das Jahr, als Bettina Röhl eingeschult wurde (unten rechts). Das Bild links zeigt sie bei einer Demo 1970. In der Mitte das Cover ihres aktuellen Buchs, in dem sie mit der Revolte von 1968 abrechnet. −Foto: dpa/Privatarchiv Röhl

Als vor 50 Jahren die Studenten auf die Straßen gingen, war die Journalistin Ulrike Meinhof mitten im Geschehen - und wurde zur RAF-Terroristin. Bettina Röhl hat das als Kind hautnah miterlebt. Meinhof war ihre Mutter. Im Buch "Die RAF hat Euch lieb" entzaubert Röhl den Mythos von 1968. Jetzt kommt sie nach Ingolstadt.


Frau Röhl, das Jahr der Jugendrevolte, 1968, ist genau 50 Jahre her. Im Bewusstsein der meisten Deutschen steht es für einen Zeitenwechsel. Weg von der miefig-spießigen Wirtschaftswunderrepublik hin zu einem modernen, lässigen, antiautoritären Land. Hippies, Rock 'n' Roll, Flower-Power - und alle, die etwas auf sich hielten, waren irgendwie links. Und auch Gewalt schien irgendwie cool und notwendig, um Deutschland in eine bessere Zukunft zu katapultieren. Wenn man Ihr Buch liest, wird überdeutlich: Sie halten das für einen naiven Mythos. Warum?

Bettina Röhl: Selten in der Geschichte hat es dieses Phänomen dann auch noch so krass gegeben: Im Fall der 68er haben wir es mit dem historischen Kuriosum zu tun, dass die Täter, die Revoluzzer, die ausgetickten Drogenkonsumenten und so weiter die Geschichtsschreibung ihrer 50 Jahre alt gewordenen, bis heute nachwirkenden Donnerwelle selber fest in den eigenen Händen halten. Nahezu die gesamte 68er-Geschichtsschreibung und -Bewertung wurde von 68ern oder den sogenannten Renegaten in den vergangenen 50 Jahren erzeugt und festgeklopft. Mehr muss man eigentlich kaum wissen, um zu verstehen, dass das öffentliche 68er-Bild ein Riesenbluff oder von mir aus auch ein Mythos ist.

Nach Ihrer Einschätzung waren der Staat und seine Organe 1968 sehr viel besser als ihr Ruf. Geradezu vorbildlich demokratisch, zumindest im Vergleich mit anderen Ländern? Wie konnte es geschehen, dass offenbar beachtliche Teile der Bevölkerung glaubten, hier habe der blanke Faschismus überlebt, und dagegen helfe dann im Extremfall nur noch Gewalt?

Röhl: Es waren kleine, aber "beachtliche" lautstarke und aggressive Teile der Bevölkerung, die 1968 dem Revolutionsphantasma eines Mao Tse Tung, eines Che Guevara, eines Ho Tschi Minh, also einer diffusen neuen mörderischen kommunistischen Idee regelrecht anheimfielen, ohne allzu viel über ihre Idole, die Massenmörder und Völkermörder waren, zu wissen oder wissen zu wollen. Diese Blindwütigkeit ist wahrscheinlich ein Merkmal jeder Ideologie. Dabei spielte die Realität in der Bundesrepublik und im gesamten Westen überhaupt keine Rolle mehr. Den Wohlstand bezeichnete die 68er als "Konsumterror", deshalb brannten 1968 auch als erstes zwei Kaufhäuser, angezündet von den Terroristen Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Wer die damalige Wirtschaftswunder-Bundesrepublik, die den demokratschen Rechtsstaat recht wacker aufbaute, verteidigte, wurde kurzerhand konterrevolutionär genannt, als Spießer und Kleinbürger beschimpft.

Warum wurde es dann letztlich nichts mit dem gewaltsamen Umsturz, den Ihre Mutter Ulrike Meinhof doch so sehnlich herbeiwünschte? Waren die Sympathien der Bevölkerung am Ende doch nicht so groß? Und warum wurde ausgerechnet Ulrike Meinhof zu einer Art Ikone der Bewegung?

Röhl: Das zweifelhafte Verdienst der RAF, die große und weit gestreute Sympathien genoss, ist es, das Konglomerat der wirren 68er-Ideen in der Gesellschaft bis in Wissenschaft, Kunst und Politik hinein zu verankern. Die RAF ist als Revolutionstruppe gescheitert. Als Propaganda-Armee hat sie enorme Wirkung entfaltet. Und sie hat viele steile Karrieren gemacht: Wer die linksradikalste Vergangenheit hatte in Wort und in manchen Fällen auch in der Tat, hatte das Ticket, in der Bundesrepublik Karriere zu machen, siehe Otto Schily, Hans-Christian Ströbele, Joschka Fischer und die vielen vielen anderen.

Sie nehmen in Ihrem Buch auch deutlich Bezug auf aktuelle Ereignisse, etwa die Ausschreitungen beim G20-Gipfel im vergangenen Jahr in Hamburg, wo Linksextremisten mit größter Brutalität Polizeibeamte angriffen. Ulrike Meinhof gab einst in einem Manifest für das Nachrichtenmagazin "Spiegel" die Parole aus: "Natürlich kann geschossen werden." Lebt dieser Geist, den Meinhof einst aus der Flasche gelassen hat, bis heute in vielen Köpfen fort?

Röhl: Diesen Geist gibt es seit den kommunistischen Revolutionsversuchen überall auf der Welt, also seit 150 Jahren. Meinhof hat den Geist lediglich in das damalige deutsche Leitmedium, den "Spiegel", gehoben. Sie war eben arrivierte Journalistin und spielte auch auf der Medienklaviatur ganz anders als die anderen RAF-Leute. Die Ausschreitungen auf dem G20-Gipfel in Hamburg 2017 stehen genau in dieser Kontinuität. Im Buch beschreibe ich Meinhof als eine Art Urmutter der heutigen Antifa, die das Gewaltmonopol bis heute massiv in Frage stellt.

Sie schildern die Geschichte der RAF aus einer noch nie gekannten Perspektive: aus der Familien- und Kinderperspektive. Ihr Vater Klaus Röhl trennt sich wegen einer anderen Frau von Ihrer Mutter, die wird daraufhin gerade im Kampf um das Sorgerecht für Sie und Ihre Zwillingsschwester zur Intrigantin, sie selbst nennen sie einmal "das, was man ein verlogenes Miststück nennt". Für heutige Außenstehende unfassbar: Sie schafft es sogar, dass eine Art Überfallkommando das Haus ihres Ex-Ehemanns stürmt und verwüstet - all das angeblich aus hehren revolutionären Motiven. Wer das liest, fragt sich: War die Revolte auch ansonsten gelegentlich so unfassbar banal?

Röhl: Die 68er-Revolution war sehr banal. Denken Sie zum Beispiel an die vielen Demonstrationen wegen zehn Pfennig Fahrpreiserhöhung, wo ganze Innenstädte und Fuhrparks wie in Bremen blindwütig zerlegt wurden. Alles wegen der bösen Autoritäten, wegen der sexuellen Revolution und weil Schüler und Studenten ab jetzt immer Recht hatten. Die 68er waren außer Rand und Band, gerade so wie Maos berüchtigte Rote Garden. Nach diesem Vorbild stürmten auch die 68er hier in Deutschland sinnleer die "Institutionen". Und in diesem Sinne ist auch der Sturm der APO-Leute unter Führung Ulrike Meinhofs auf das frühere gemeinsame bürgerliche Haus ihres Ex-Mannes zu interpretieren: Kulturrevolution.

Sie schildern, wie Ihre Mutter in den Untergrund geht und versucht, Sie und Ihre Schwester in ein palästinensisches Waisenhaus abzuschieben. Sie beide wurden gerade noch rechtzeitig in Sizilien aufgelesen und zu Ihrem Vater gebracht. Haben Sie je verstanden, was Ulrike Meinhof damals geritten hat, ihre Kinder so brutal von sich zu stoßen?

Röhl: In Palästina gab es keine Waisenhäuser, sondern nur notdürftige Wüstencamps für Waisen. Es war die Zeit, in der die 68er den Staat Israel gerade als neuen Nazistaat für sich entdeckt hatten und die Palästinenser als kommunistische Freiheitskämpfer und Revolutionäre galten, die schon mit der Kalaschnikow gegen Israel und den Kapitalismus kämpften. Die RAF-Leute inklusive Meinhof fanden es im Sommer 1970, wo sie sich ja selber gerade gründeten, wohl irgendwie geil, wenn meine Schwester und ich gleich als revolutionäre Avantgarde aufwüchsen.

Wo würden Sie selbst sich heute nach diesen Erfahrungen politisch einordnen?

Röhl: Gäbe es eine Helmut-Schmidt-SPD, würde ich sie gerne wählen.

Die Fragen stellte Richard Auer.