Singen und schweigen

Domspatzen auf Pilgerreise

10.09.2018 | Stand 23.09.2023, 4:02 Uhr
Bewegende Szenen in Yad Vashem: Nach dem "Miserere" folgte Stille, die Domspatzen waren ebenso bewegt wie der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer. −Foto: Michael Vogl

Die Regensburger Domspatzen haben sich auf eine Pilgerreise nach Israel begeben. Sie traten auch in der Gedenkstätte Yad Vashem auf, wo sie an die dunkle Vergangenheit ihrer eigenen Nation erinnert wurden. Zugleich erlebten sie die beunruhigende Gegenwart im Nahen Osten.

Nichts ist bedrückender als diese Stille. Diese Stille nach der wunderbaren Musik, die von jenen 87 Domspatzen an diesem Ort der Schande für uns Deutsche gesungen wird. Der weltberühmte Chor singt da, wo jedes Wort eigentlich zuviel ist. Der Höhepunkt einer Pilgerreise des Knabenchors mit dem Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer an der Spitze führte sie an die Stätte, die bis heute das größte Menschheitsverbrechen bezeugt, das je geschehen ist: Yad Vashem. Der Erinnerungsort an den Holocaust. Begangen von ihren Vorvätern.

Dabei haben sich die Regensburger Domspatzen auf eine aufregende Reise begeben. "Das war immer ein Traum von mir, die Stücke, die wir im Dom zu den Feiertagen singen, an den Original-Schauplätzen singen zu dürfen", sagt Domkapellmeister Roland Büchner. Er ist heuer das letzte Mal an der Spitze des Chores, leitet ihn seit 24 Jahren. Er trat 1994 in die Fußstapfen von Georg Ratzinger, der selbst 40 Jahre lang Domkapellmeister war.

In Israel erleben sie wunderbare Momente: In Nazareth rührt das "Ave Maria" von Anton Bruckner den Domkapellmeister zu Tränen. Am Berg der Seligpreisung spürt man, welche Magie von diesem Ort am See Genezareth ausgeht, wo Jesus Jünger versammelte. In der Katharinenkirche direkt neben der Stelle, an der Jesus in Bethlehem geboren wurde, singen sie "Heilige Nacht", weil in Bethlehem immer Weihnachten ist. Doch hier, in Yad Vashem, ist es die Minute des Schweigens nach dem "Miserere" von Gregorio Allegri, die wie ein Messer schneidet. Viele weinen. Auch die Älteren unter den Domspatzen.

Marion Giladi hieß vor 30 Jahren noch Schröder und lebt jetzt als Reiseführerin in Israel. Sie führt heute die kleinen Domspatzen durch Yad Vashem. Es ist beeindruckend, wie sie den Kindern erklärt, wie schrecklich dieses Verbrechen war. Im "Haus der Kinder" sehen sie das Licht von sechs Kerzen mit Spiegeln in die Unendlichkeit geworfen, jede steht für sechs Millionen Tote. Eine Sprecherin sagt immer wieder den Namen eines Kindes, das während der NS-Zeit getötet wurde: "Samuel, sechs Jahre alt" zum Beispiel. Die Kinder haben viele Fragen an Marion Giladi. "Wisst ihr, man hat diese Menschen umgebracht, nur weil sie Juden waren", sagt sie ihnen. Ein Domspatz will wissen: "Wie wurden sie getötet? Erschossen?" Die Antwort tut weh.

Die kleinen Domspatzen dürfen nicht in das Museum, das der Staat Israel in Yad Vashem gebaut hat, zu brutal sind die Bilder, die darin zu sehen sind. Doch in einem Fenster können sie nach unten sehen. Das Gebäude, ein Prisma, wurde in die Tiefe gebaut. Es ist verwinkelt, geradezu beengend - doch am Ende kommt man an eine Terrasse, die einen herrlichen Blick auf Israel freigibt: "Die wollten den Juden ein Ende bereiten, doch es wurde ein Anfang daraus", sagt Marion.

Auch der sonst so lebendige und musikbegeisterte Büchner ist nach dem Besuch der Gedenkstätte still. Bischof Voderholzer liest den Psalm vor, der für die jüdische Erinnerung ebenso viel bedeutet wie für das Christentum. Der Bischof steht im Tal der Gemeinden. An die grob gehauenen Steine, die zu einem Gebirge aufgetürmt sind, stehen die Namen jener jüdischen Gemeinden, die in der Zeit des Nazi-Terrors ausgelöscht wurden.

Die Domspatzen waren einst der Lieblingschor von Adolf Hitler, er sponserte die erste große Auslandsreise nach Südamerika. Der Erfolg, die eiserne Disziplin - noch heute sind sie gefordert. Doch all das hat auch Hitler angezogen: Er fand trotz seiner Abneigung zum Christentum genau ihre Perfektion verführerisch gut.

Die Pilger - die Domspatzen werden von Eltern und Großeltern begleitet, die den Chor an den heiligen Stätten singen hören wollen - haben viele Fragen. Warum fahren sie durch einen Checkpoint, wenn sie Jerusalem verlassen und nach Bethelhem wollen? "Früher fragten die deutschen Touristen auch immer: Warum baut ihr eine Mauer?", sagt Marion Giladi. "Seit drei Jahren aber fragen sie das nicht mehr." Auch in Deutschland hat sich nach ihrer Wahrnehmung viel verändert. Doch es ist eigentümlich: Selbst an den "Hotspots" auf dem Tempelberg oder an der Klagemauer wirkt Jerusalem an jenem Sonntag, an dem die Juden "Rosh ha-Schana", das Neujahrsfest begehen, friedlicher als das aufgewühlte Deutschland. Dennoch: Israel ist ein seltsam gespaltenes Land. Als der Staat im Mai 1948 von Ben Gurion ausgerufen wird, fallen arabische Truppen ein, um den von den UN festgeschriebenen Teilungsplan zu unterbinden. Doch die jordanische Welt unterliegt. Mehrere Kriege folgen - unter anderem der 1967. Israel besetzt, so sagen es heute viele, das Westjordanland und Jerusalem.

Florian Eckl ist einer der großen Domspatzen, die in das Gebäude gingen, das den Holocaust dokumentiert. "Es ist egal, ob das 70 Jahre her ist oder nur zehn - das, was geschehen ist, ist so unfassbar, dass wir uns erinnern müssen", ist er sich sicher. "Wenn ich sehe, was heute passiert, wenn man wieder auf Menschen zeigt, weil sie anders sind, würde ich mir wünschen: Geht hin und redet mit ihnen. Denn wenn ihr den Menschen kennen lernt, dann werdet ihr ihn verstehen lernen."

Kontakt zu anderen Menschen haben die Domspatzen in der Schule der Salvatorianerinnen in Nazareth. Dort geben sie ein Konzert. Die Mädchen haben sich hübsch gemacht für die Jungs aus Deutschland. Es herrscht Aufregung, als der Chor die Bühne betritt. Die Schule wird von Klosterschwestern geleitet, sie unterrichtet 1500 Schülerinnen und Schüler. Klar, als man den Domspatzen Zeit zur Begegnung gibt, sind es vor allem die Selfies, die heiß begehrt sind. Aber man tauscht auch Adressen und Facebook-Kontakte aus. "Ich möchte den Kontakt halten", sagt Florian Eckl. "Es ist wunderbar, andere Kulturen kennenzulernen." In Nazareth leben 80 Prozent Muslime und 20 Prozent Christen, das Verhältnis an der Schule ist umgekehrt. Doch liegt die Quote der bestandenen Abiturprüfungen landesweit bei 58 Prozent, schaffen an dieser Schule 95 Prozent das Abitur nach dem ersten Anlauf. Bischof Voderholzer ist die Begegnung wichtig, das spürt man. "Die Rahmenbedingungen sind für Christen hier im Heiligen Land sehr schlecht", sagt er. "Dabei ist Bildung der Schlüssel zu einem guten Leben." Der Regensburger Oberhirte hält nichts "von einem Patronatssystem, in dem wir kommen und Geld bringen. Solche Schulen zu unterstützen, das ist viel wichtiger." Rassismus widerspricht dem Glauben: "Die Kirche ist ein Volk aus Völkern, da gibt es keine Unterschiede."

Einer, der Unterschiede dennoch täglich spürt, ist Ibrahim Salameh, er führt die großen Domspatzen durch ihre Reise im Heiligen Land. Ibrahim ist einer von nur 50 Palästinensern aus dem Westjordanland, die eine Genehmigung haben, Führungen in Israel zu machen. "Wenn ich nach Deutschland reisen will, dann kann ich nicht einfach fliegen. Ich muss nach Jericho fahren, dann nach Amman in Jordanien - dann bekomme ich von den Deutschen ein Visum, das für fünf Tage gilt." 1,2 Millionen Palästinenser haben einen israelischen Pass, doch Ibrahim gehört zu jenen Christen im Westjordanland, die unter der Autonomie-Behörde leben. Sie müssen durch die Checkpoints fahren. Nicht immer werden sie durchgelassen. Was fordert er? "Einen eigenen Staat, ja", sagt Ibrahim. Seit einigen Wochen ist eine Förderation mit Jordanien im Gespräch, doch auch die haben abgelehnt. "Sie sagen: Bei uns leben schon mehr als eine Million Palästinenser. Wir wollen nicht mehr haben."

Die Busse der Domspatzen machen auch halt in Qunetra, von wo aus man die UN-Station sieht. "Damaskus ist 29 Kilometer entfernt", zeigt Ibrahim. Zwei Domspatzen fragen israelische Soldaten, die hier patrouilieren und gerade eine Pause machen, nach einem Selfie. Die lachen und sagen ja. 70 Jahre Frieden in Deutschland haben vergessen gemacht, was Krieg bedeutet - hier, in Israel, ist er alltäglich. Und immer eine Bedrohung. Wann gibt es Frieden im Heiligen Land, dort, wo drei Weltreligionen ihren Anspruch auf ihre heiligen Stätten haben?

Nach dem Besuch in Yad Vashem hält Bischof Voderholzer eine Messe in der Jerusalemer Altstadt. Er ist im Festtagsgewand, die Domspatzen stehen in ihren Ministrantenkutten neben dem Altar, als gäbe es ein Fest zu feiern. Doch auch Bischof Voderholzer ringt zunächst um Worte. "Es ist nicht leicht, jetzt den feierlichen Sonntagsgottesdienst zu halten." Und er erinnert die Domspatzen an das soeben Gesehene - und drückt seine Ergriffenheit so aus: "Ich weiß nicht, was bewegender war. Die Musik. Oder die Stille."

Christian Eckl