Allein mit dem Kind und der Krise

26.05.2020 | Stand 23.09.2023, 12:08 Uhr
Symbolbild Mutter mit Baby. −Foto: Pleul, dpa

Wer seinen Nachwuchs ohne Partner aufzieht, muss ohnehin mehr kämpfen als andere. Da ist niemand zum Anlehnen oder zur Klärung dringender Fragen. In Corona-Zeiten fällt das Leben noch schwerer, wenn plötzlich das Einkommen schrumpft und vielleicht Schulden aus früheren Tagen drücken. Eine Mutter aus Ingolstadt erzählt, wie sie unter der Abgeschiedenheit litt und ihren Alltag und die psychische Belastung zu bewältigen versucht.

 

Ingolstadt - Das Jahr hatte so gut und vielversprechend begonnen. Nach langer Zeit persönlicher Rückschläge und finanzieller Sorgen hatte Tanja H. (Name geändert) aus Ingolstadt beschlossen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Die alleinerziehende Mutter suchte die Schuldnerberatung der Caritas auf, ließ sich ein Sanierungskonzept erarbeiten und stellte fest: Es gibt tatsächlich eine Perspektive jenseits von Mahnbescheiden und Gläubigerbriefen und vielleicht doch eine Zukunft ohne Existenzängste. Dann kam der März und mit ihm die Corona-Krise. Nichts war mehr wie zuvor, all die schönen Pläne schienen gefährdet. "Das hat mich psychisch wieder ganz schön reingerissen", sagt die Mittdreißigerin. Zwischendurch war die Angestellte sogar Hartz-IV-Bezieherin, trotz Arbeitsstelle.

Das Leben hatte es nicht sonderlich gut mit ihr gemeint. Natürlich gibt es den Spruch, ein jeder sei selbst seines Glückes Schmied. Solche "weisen" Worte sind schnell dahingesagt, doch nicht jeder hat das Glück, in eine Familie hineingeboren zu werden, die ihren Kindern Geborgenheit, Liebe und Möglichkeiten gibt, etwas aus sich zu machen. Tanja hatte es ja versucht, nach besten Kräften. Aber wie soll einem der Start in die Eigenständigkeit gelingen, wenn die Kindheit von vorne bis hinten verkorkst war?

Sie stammt, wie sie erzählt, aus einer Großstadt weit weg von Ingolstadt. Mutter und Vater hatten das Mädchen so schlecht behandelt, dass die Behörden es mit dreieinhalb Jahren in eine Pflegefamilie steckten. Aber dort wartete nicht wirklich Kinderglück auf Tanja: "Da ist sehr viel schiefgelaufen." Sie erinnert sich an viele Demütigungen, Missbrauch, Schläge und Unterdrückung. Trotzdem möchte sie ihren Weg machen, erlernt nach dem Schulabschluss zunächst einen kaufmännischen Beruf, macht noch eine Ausbildung zur Arzthelferin und holt das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. Ein harter Prüfstein, aber sie schafft es. Ihre erste große Beziehung geht 2012 in die Brüche, zuvor war sie bereits Richtung Nordbayern gezogen, um zu studieren. "Ab da", so erinnert sich die junge Frau, "ist es bei mir steil bergab gegangen."

Psychisch war sie durch ihre Jugend ohnehin angeschlagen. Ein neuer Partner tritt in ihr Leben, einer, der sie noch tiefer ins Schlamassel zieht - auch, weil sie es zulässt. Der Mann ist rauschgiftabhängig und nicht nur das: Er schlägt sie, nicht nur einmal übt er physische und psychische Gewalt aus. Die Erfahrungen aus ihrer Kindheit holen Tanja H. wieder ein. Sie greift selbst zu Drogen, probiert fast alles, was sie kriegen kann. Zum Glück gelingt ihr schon nach einem halben Jahr wieder der Ausstieg, als sie ungeplant ein Kind erwartet. Die Schwangerschaft erlebt sie mit dem werdenden Vater, der freilich keine Stütze bedeutet. "Alles ist an mir hängengeblieben", erzählt die Mittdreißigerin.

Ein großer Teil ihrer Schuldenlast stammt aus dieser Zeit, Handyverträge, Stromrechnungen, Lebensunterhalt - das Meiste bestreitet sie auf ihren Namen. "Den größten Batzen macht der Bildungskredit für mein Studium aus." Am Ende haben sich rund 42000 Euro "Miese" angehäuft. Als sich vor zwei Jahren eine Arbeitsstelle in Ingolstadt anbietet, verlässt Tanja H. ihren Partner und zieht in die Schanz.

Vergangenen Sommer ist der Vater ihres heute fünfjährigen Kindes dann überraschend an einer Drogenüberdosis gestorben, mit nur 28 Jahren. "Er war zwar meistens keine große Hilfe, aber zumindest war da noch jemand, der auch Verantwortung für unseren Nachwuchs zu tragen hatte. Jetzt war ich plötzlich ganz allein", sagt sie. Diese Last drückt schwer, im September bricht sie zusammen.

Aber die Mittdreißigerin rappelt sich wieder auf, ihr Kind braucht sie. Tanja sucht zu Jahresbeginn die Schuldnerberatung der Caritas auf, hört das erste Mal von möglichen Hilfen wie Wohngeld oder Kinderzuschlag, freut sich, dass sich jemand mit Kompetenz ihrer Sorgen annimmt und Lösungen sucht. Lange genug hatte sie zuvor den Kopf in den Sand gesteckt, Gläubigerpost nicht geöffnet und Fristen verstreichen lassen - typisches Verhalten für Menschen in ihrer Lage.

Mit der Corona-Krise kommt Tanja H. jetzt noch einmal ins Wackeln, sie nimmt Antidepressiva, um das durchzustehen. In der Arbeit schickt man sie von heute auf morgen heim, plötzlich fehlt das Geld wieder hinten und vorne. Rund 1500 Euro bleiben ihr mit Kindergeld und allen Extras, davon gehen allein 730 für die Miete weg, dazu Kosten für Internetzugang, Telefon oder Versicherungen und was sonst so anfällt.

"Ich habe jetzt mein Leben total umgekrempelt", sagt sie. Ein kleiner Nebenjob bringt ihr wenigstens einige Euro extra. Schnell mal in die Stadt gefahren, hier ein Eis gegessen, dort einen Kaffee getrunken oder sich was Süßes gegönnt - das war vor Corona. Sie fährt nun überwiegend mit dem Fahrrad statt mit dem Bus, da lässt sich viel sparen. "Und ich kaufe nur noch einmal in der Woche ein und überlege genau, was ich brauche und was nicht. Gegessen wird daheim."

Aber da ist Tanja zunehmend die Decke auf den Kopf gefallen. In zwei Monaten Ausgangsbeschränkung hatte sie kaum mit Erwachsenen zu tun, das nagt an der ohnehin angeschlagenen Psyche. Da war niemand zum Anlehnen und keiner, dem sie ihre Sorgen erzählen konnte. Sie hat die Arbeit und die Kollegen vermisst, so gern sie ihr Kind mag. "Aber man muss auch mal raus und andere Leute treffen." Seit die Ausgangsbeschränkung gelockert ist, der Kindergarten auch für sie auf hat, und sie zeitweise wieder arbeiten kann, geht es ihr besser. "Aber es ist schon eine Scheißzeit mit diesem Corona, wenn du allein mit der ganzen Verantwortung bist."

DKIN DER SCHULDENFALLE - WO BEKOMME ICH KOSTENLOS HILFE IN DER REGION?Die Corona-Krise ist für viele eine große finanzielle Belastung. Wer eine Wohnung oder ein Haus finanziert, Auto und TV-Gerät geleast und sich vielleicht noch den letzten Urlaub auf Pump geleistet hat, war möglicherweise schon zuvor fast an der Grenze des Machbaren. Mit der vielerorts andauernden Kurzarbeit ist das über längere Zeit nicht mehr tragbar, je nachdem, wie großzügig der Arbeitgeber sich verhält. Wer da noch Altlasten mitbringt, was Verbindlichkeiten betrifft, sollte nicht allzu lange abwarten, sondern lieber fachkundige Hilfe suchen. "Je eher jemand zu uns kommt, desto besser können wir helfen", sagt Bernhard Gruber von der Schuldner - und Insolvenzberatung der Caritas-Kreisstelle Ingolstadt. "Wir wollen den Betroffenen wieder eine Perspektive geben. Die Beratung erfolgt bei uns kostenlos und nach dem Verschwiegenheitsprinzip." Die Ingolstädter Caritas vermerkte im vergangenen Jahr 433 Beratungsfälle, gemeint ist jeweils ein ganzer Haushalt, egal wie viele Personen dazu gehören. Das Gros der Betroffenen - exakt 71 Prozent - war zwischen 26 und 59 Jahre alt. 13 Prozent der Hilfesuchenden waren unter 25, die Älteren ab 60 machten 16 Prozent aus - hier fällt ein starker Zuwachs auf. "Gründe dafür sind oft geringe Renten, der Tod des Partners mit Wegfall seiner Altersversorgung und zu geringe Rücklagen", sagt Gruber. Fast 60 Prozent der Klienten haben einen Migrationshintergrund, und knapp 50 Prozent aller Ratsuchenden verfügen über nicht mehr als die existenzsichernden Sozialleistungen. Was mit teuren Handyverträgen beginnt, endet nach den Erfahrungen der Schuldnerberatungen nicht selten in einer Spirale nach unten - bargeldlose Zahlungssysteme, überall angebotene Kredite und sonstige Verlockungen lassen immer mehr Verbraucher den Überblick verlieren. Konjunkturelle Einschnitte und hohe Mieten tragen weiter zur Misere bei. Die Hauptursachen für eine Überschuldung sind Arbeitslosigkeit, Trennung oder Scheidung, Krankheiten, längerfristiges Niedereinkommen, alles meist in Kombination mit unwirtschaftlicher Haushaltsführung. Sehr oft liegt es an der Spielsucht, wenn die Schulden immer mehr werden. "Vielen Menschen fehlt es außerdem an finanzieller Kompetenz", sagt Schuldnerberater Gruber. Bei den Gesprächen mit Betroffenen versuchen er und sein Team, vollständigen Überblick über deren finanzielle Situation zu bekommen. "Da muss der Klient natürlich offen mitarbeiten und ehrlich sein, wenn das überhaupt einen Sinn haben soll. Nur wenn wir ganzheitlich vorgehen und wirklich alles einbeziehen, können wir eine Lösung finden."Im Idealfall erhalten Schuldner nicht nur Tipps, wo sie Zuschüsse wie etwa Wohngeld oder Kinderzuschlag bekommen, sondern meist auch ein Sanierungskonzept. Dazu filtern die Schuldnerberater verjährte Ansprüche heraus, handeln Vergleiche heraus, suchen das Gespräch mit Gläubiger und machen vertretbare Zahlungsziele aus. Klienten sollen ihr Leben am Ende wieder selbst verwalten können. "Mit unserem Dienst wollen wir auch eine Steigerung der Lebensqualität für die Betroffenen erreichen", sagt Gruber.Schuldnerberatungen der Caritas gibt es in Ingolstadt (Telefon 08 41-30 90), in Eichstätt (0 84 21-5 01 32), Neuburg (0 84 31-6 48 80), Pfaffenhofen (0 84 41-80 83-8 80) und Roth (0 91 71-84 08-0). Eine solchen (ebenfalls kostenlosen) Dienst bietet zudem das Diakonische Werk (08 41-93 30 90) in Ingolstadt und Neuburg an.

Horst Richter