Wie Landshut mit seinem Theaterzelt lebt

Interview mit Stefan Tilch, Intendant am Landestheater Niederbayern

12.07.2022 | Stand 22.09.2023, 21:18 Uhr

Landshut – Seit Jahrzehnten ist klar, dass das Stadttheater saniert werden muss und – weil das Große Haus dazu geschlossen werden muss – eine Ersatzspielstätte vonnöten ist. Nach heftigen Diskussionen um Standort und Entwürfe stimmte eine breite Stadtratsmehrheit für den Neubau. Trotzdem gibt es am 24. Juli einen Bürgerentscheid zu den Kammerspielen. Was passiert eigentlich, wenn das Votum negativ ausfällt? Kommt dann ein Theaterzelt? Stefan Tilch, seit 20 Jahren Intendant des Landestheater Niederbayern, spielt seit 2014 in solch einem Theaterzelt. Denn aus der ursprünglichen Übergangslösung ist ein Dauerzustand geworden.

Herr Tilch, weil das Landshuter Stadttheater  im Bernlochner-Bau sanierungsbedürftig ist, spielt Ihr Ensemble seit Jahren in einem Zelt am Stadtrand. Wie geht es Ihnen dort?
Stefan Tilch: Der Ort ist nicht ideal. Zum einen sind wir nicht im Stadtzentrum, sondern ziemlich weit in der Peripherie Landshuts. Zum anderen ist vor allem die Perspektivlosigkeit nachhaltig belastend.

Können Sie Ihre Arbeitssituation beschreiben?
Tilch: Hier im Zelt ist alles untergebracht. Außer unseren Werkstätten sind alle Gewerke in diese Containerlandschaft mit umgezogen. Die beiden Hauptthemen, die mit Zelt immer einhergehen, sind Lärm und Temperatur. Ein Zelt ist ein Zelt. Es schirmt nicht ab gegen Schallwellen, seien es Geräusche der Umgebung wie Verkehr oder Veranstaltungen in der Nachbarschaft oder Naturgewalten wie Regen und Gewitter. Dazu ist ein Zelt extrem schwer klimatisch in den Griff zu bekommen – sowohl bei Hitze als auch bei Kälte.

Sie haben von unwürdigen Bedingungen gesprochen – nicht nur von Lärm, Hitze im Sommer, Kälte im Winter, sondern von Ratten und Gerüchen.
Tilch: Die große, große Schwierigkeit ist, dass wir tatsächlich mit sehr unwürdigen Bedingungen konfrontiert sind – ob das Pilze sind, Ratten oder einbrechende Böden. Aber wir können das nicht offen verbalisieren. Wir haben kein Interesse daran, unser Publikum zu vergraulen. Wir müssen also nach außen, in die Stadt hinein vermitteln: Wir können hier ganz tolles Theater machen. Kommt zu uns.

Wie war denn eigentlich der ursprüngliche Plan?
Tilch: Das große Problem ist, dass es einen wirklichen Plan nicht gab. Es musste damals einfach schnell gehen. Es gab das Zelt und die Prognose, dass wir etwa fünf bis sieben Jahren damit leben müssten. Das war der große Fehler. Wenn man ein Provisorium dieser Art bezieht, dann ist das Wichtigste für jeden, der sich drauf einlässt, dass man ganz klare Eckdaten hat. Wir hatten eine Ausweichspielstätte, wussten aber nicht, wie es weitergeht. Denn es gab große juristische Schlamassel, weil das Theatergebäude der Stadt Landshut gar nicht gehörte, sondern nur in Erbpacht gepachtet war. Zunächst mussten also die Zuständigkeiten geklärt werden. Die Stadt Landshut kann ja kein Gebäude renovieren, das ihr nicht gehört. Bis das juristisch geklärt war, gingen die ersten Jahre ins Land. Die Stadt hat das Gebäude schließlich gekauft, einen Architektenwettbewerb ausgeschrieben und es gab auch einen Sieger. Diese Pläne wurden aber eingefroren, als die Stadt überraschend meldete, dass das ganze Projekt in dieser Phase nicht zu finanzieren sein würde.

2013 musste das Stammhaus geschlossen werden, schon zuvor durfte nur mit  einer TÜV-Ausnahmegenehmigung gespielt werden. Hätte man früher handeln müssen?
Tilch: Ja. Denn die Art und Weise, wie man sich schon in den Jahrzehnten davor nicht um dieses Gebäude gekümmert hat, war signifikant. Jahrelang hatten wir versucht, einen Kälteschutz vor der Theaterkasse anzubringen. Sogar Anfragen dieser Größenordnung wurden regelmäßig mit Hinweis auf die finanzielle Lage der Stadt abgelehnt. Dieses ewige Hintanstellen lässt sich aber bundesweit beobachten. Viele Theater sind derzeit in die Renovierungsbedürftigkeit gerutscht. Da spielen natürlich geänderte Gesetze und Vorschriften eine Rolle, aber das andere ist, dass man überall versäumt hat, diese Gebäude auf der Höhe der Zeit zu halten.

War das Zelt eigentlich die einzige Alternative – oder schien es damals einfach nur die kostengünstigste?

Tilch: Es war vor allem die kostengünstigste. Aber wir haben uns letztlich vor allem deshalb dafür ausgesprochen, weil alle anderen Alternativen wirklich gefährlich gewesen wären: Es wurde über die alte Wäscherei des Klinikums gesprochen. Diese für ein Zwei-Sparten-Haus zu ertüchtigen, wäre aber sehr viel teurer geworden. Es ist ja gar nicht so einfach, mit Menschen, die nicht vom Fach sind, über die Bedürfnisse eines Theater zu sprechen. Bei Politikern findet man häufig die gängige Vorstellung, ein Theater ist ein Raum mit ein paar Stühlen und einem Loch in der Wand, in dem gespielt wird. Beim Theaterzelt hatten wir immerhin die Gewissheit, dass etwas Professionelles für die Bedürfnisse eines Zwei-Sparten-Hauses konfiguriert würde. Auch wenn die Expertisen widersprüchlich waren. Die Kollegen vom Deutschen Theater, die damals das Theaterzelt in Fröttmaning bespielt hatten, haben gewarnt, dass der Spielplan vor allem wettertauglich sein müsse. Welche Stücke funktionieren auch bei Regen? Ausschlag gab eine Dame aus dem Heidelberger Stadtrat. Unser Zelt stand zuletzt in Heidelberg als Interimsspielstätte. Und die berichtete zu 100 Prozent positiv von den Erfahrungen mit dem Zelt. Allerdings muss man wissen, dass das Zelt in Heidelberg auf einem (akustisch) geschützten Areal stand – und das nur für einen sehr begrenzten Zeitraum.

Was macht die Situation mit den Theatermitarbeitern – und mit dem Publikum? Haben Sie viel Fluktuation beim Personal? Welche Auswirkungen gibt es auf die Besucherzahlen? 
Tilch: Es gab relativ früh einen Schwund von externen freien Mitarbeitern – Regisseure, Choreographen, Ausstatter – die regelmäßig bei uns gearbeitet haben, es aber ablehnten, unter diesen Umständen hier zu arbeiten. Die eigentlichen Stammmitarbeiter arrangieren sich – mit den klimatischen Bedingungen und allem anderen. Dabei ist die Dauerbelastung der Schauspieler hoch. Denn auch die Proberäume sind hier untergebracht. Eigentlich benötigt man für künstlerische Prozesse eine große Konzentration. Hier werden intime Dinge verhandelt. Hier wird das Innerste nach außen gekehrt. Und das bei dieser Lärmkulisse. Das ist anstrengend. Das Publikum ist treugeblieben – vielleicht auch als eine Art Demonstration, dass man zum Theater steht.

Wurde in Landshut um Finanzen gerungen oder um Kunst?
Tilch: Es wurde schon viel diskutiert – um Orte und Neubauvarianten. Kann man das alte Gefängnis umbauen? Unter welchen Prämissen sollte das alte Stadttheater erhalten werden? Landshuts Oberbürgermeister Alexander Putz legte dann den Plan vor, das alte Theater als Studiobühne herzurichten, daneben aber einen Neubau für den regulären Spielbetrieb zu schaffen. Der einzig richtige Weg! Zermürbend wurde es dann, als es hieß, es ist kein Geld da. Dann wurden Schulen gegen Theater aufgerechnet. Als würden wir Theaterleute Unterricht und Bildung blockieren.

Sie kennen die Ingolstädter Pläne für einen Neubau in der Nachbarschaft des Theaters: Die Ersatzspielstätte, die dort entstehen soll, wenn das Haus für zwei bis drei Jahre während der Sanierung geschlossen werden muss, soll später weitergenutzt werden – für das Junge Theater, als Ort der Begegnung. Wie beurteilen Sie die Pläne?
Tilch: Seit dem Besuch in Ingolstadt war ich komplett von Neid zerfressen über die Brillanz des Planes und die Vehemenz, mit der Ingolstadts Oberbürgermeister diese Pläne verteidigt hat. Genau so muss eine Stadt mit ihrem Theater umgehen und weitsichtig etwas kreieren, das nicht nur zukunftstauglich und nachhaltig ist, sondern auch hohe Strahlkraft entwickelt. Dass das alles nun auf der Kippe stehen soll, schockiert mich.

Wie geht es bei Ihnen in Landshut weiter? 
Tilch: Die Renovierung des alten Theaters soll angegangen werden, was dazu führen kann, dass die Schauspielabteilung wieder in die Stadt zurückziehen kann und kleine Vorstellungen im Studiotheater spielen kann. Das Zelt wird für Musiktheater und größere Produktionen weiterbetrieben werden müssen – bis in einem zweiten Bauabschnitt ein neues Haus entsteht. 20 Jahre wird das Theaterzelt in Landshut also bestimmt stehen.

Die Fragen stellte Anja Witzke.

ZUR PERSON

Stefan Tilch wurde 1968 in Passau geboren und studierte in München Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft und italienische Philologie. Er war sieben Jahre Spielleiter an der Bayerischen Staatsoper, wo er auch inszenierte. Seit 2002 ist er Intendant des Landestheaters Niederbayern mit festen Spielstätten in Landshut, Passau und Straubing. Sein Vertrag wurde dieses Jahr bis 2026 verlängert.

DK