Es geht um Positionierungen an diesem Abend, und das nicht nur im übertragenen Sinne. Zwar erzählt die deutschsprachige Erstaufführung der niederländischen Autorin Lot Vekemans von einer Tochter und ihrem Vater, deren Weltanschauungen diametral entgegengesetzt stehen. Aber weil das Zweipersonenstücks „Blind“ am Münchner Residenztheater ein richtig, richtig guter Theaterabend ist, übersetzen sich die Aushandlungen der beiden auch in ihre Körper. Zu beobachten, wie sich zwei Spieler während des gesamten Abends immer wieder minutiös neu positionieren, ist wie ein Psychogramm. Wer steht, wer sitzt, wer sucht die Oberhand zu bekommen, indem er sich erhebt? Wer sucht Nähe, wer verweigert sie? Schon in den ersten Minuten wird klar: Hier wissen zwei brillante Schauspieler genau, was sie tun.
Die fantastische Juliane Köhler ist Helen, eine Tochter auf Distanz. Ihr Vater hat sie einbestellt, damit sie ihm irgendwelche Einkäufe besorgt, und natürlich hat sie alles falsch gemacht: Einliterpäcken waren gewünscht, doch sie hat eineinhalb Liter gekauft. Falsch. Grundfalsch. Hier geht es ums Prinzip, und zwar bei beiden. Viel zu spät kommt seine Botschaft: „Ich bin froh, dass Du da bist.“
Immer wieder begegnet die Tochter dem entfremdeten Vater widerwillig in seiner selbstgewählten Einsamkeit, denn er lebt abgeschottet in einem von privaten Sicherheitsdiensten bewachten Stadtviertel für Wohlhabende. Immer wieder bricht sie fluchtartig auf in ihr eigenes Leben. Dann gibt es eine technische Störung – oder hat der Vater sie absichtlich herbeigeführt? Die Alarmanlage hat ausgelöst und beide sitzen fürs erste im Wohnbunker fest.
Die Tochter kann allerdings mit diesem Vater keine Nähe zulassen. Dass es nicht an ihrem Wesen liegt, wenn sie sich kalt verhält, beweist ein Telefonat mit dem Ehemann, den ihr Vater noch immer für eine falsche Wahl hält. Dann singt ihre zuvor so harte Stimme, Empathie verströmt, Heiterkeit umweht die Worte. Helen ist liebesfähig, aber nicht ihrem Vater gegenüber. Das hat sie sich schmerzvoll abgewöhnt.
Die klare Kante, welche Regisseur Matthias Rippert mit seinen beiden Darstellenden formt, ist im Text nicht ganz so extrem vorgezeichnet. Es ist ein großartiger Text, entgrätet von allem Gelaber und damit bestens zur Abstraktion geeignet: Konflikte zwischen Generationen, das Abschotten zwischen weltanschaulichen Blasen, die Konkurrenz zwischen divergierenden Konzepten, all das verdichtet sich wie selbstverständlich in dieser dramatischen Hülle zum Dialog.
So karg die Bühne, die Kostüme, das Licht, die äußere Handlung, so kompromisslos ist die Inszenierung. Es ist ein im allerbesten Sinne altmodischer Ansatz, den der Regisseur, Jahrgang 1988, hier zulässt. Er traut den Spielenden, er vertraut auf ihr Können, ihre Präsenz, ihr Timing. Und das Wagnis gelingt: Der zerbrechliche Manfred Zapatka als Richard ist in der Reduktion von allen Mätzchen groß. Er ist ein boshafter, ein herrschsüchtiger, ein liebender, ein kindischer, ein leidender Vater. Er sehnt sich nach der Berührung der Tochter, fordert sie harsch ein, um ihr dann doch auszuweichen. Der Schauspieler, der die Schwelle des neunten Lebensjahrzehnts überschritten hat, spielt diesen Richard als einen Gescheiterten. Doch das Konzept von Schuld, das seine Tochter ihm einimpfen möchte, wird keine Wunden schließen. Beide werden ihre scheinbar sicheren Positionen verlassen müssen, damit Nähe wieder möglich wird.
Ein kluger, berührender Theaterabend zur rechten Zeit.
DK
ZUR PRODUKTION
Theater:
Residenztheater München
Regie: Matthias Rippert
Bühne: Fabian Liszt
Kostüme: Alfred Morina
Musik: Robert Pawliczek
Nächste Vorstellungen:
5., 12., 22. Dezember
Kartentelefon:
(089) 21 85 19 40
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