Unter Wasser und über den Wolken

Das Südwind-Festival ist mit Verve gestartet – und präsentiert außergewöhnliches Theater und viel Gelegenheit zum Mitmachen

01.07.2022 | Stand 22.09.2023, 21:40 Uhr

Das Theater Kunstdünger hat mit „Schleichweg“ einen echten Knaller zum Festival mitgebracht. Foto: Tobel

Von Anja Witzke

Ingolstadt – Farbige Südwind-Logos auf Fußgängerwegen und Plätzen weisen den Weg zum Festivalzentrum: Der Platz vor dem Theater hat sich verändert. Eine knallbunt angemalte Rampe verbindet die verschiedenen Ebenen des Hämer-Baus miteinander. Es gibt eine kleine Bühne, Zelte, eine Halfpipe, einen Wasserspielplatz, Sonnenschirme und Sitzgelegenheiten – vom bunten Sitzkissen bis zum Hocker.

Vormittags bauen, abends auf der Bühne

Jens Burde vom „Institut für Sagenhaftes“ hat sich diese bespiel-, begeh-, befahrbare künstlerische Intervention ausgedacht. Schon im Vorfeld des 1. bayerischen Kinder- und Jugendtheaterfestivals, das noch bis 8. Juli in Ingolstadt stattfindet, haben der Designer und Projektleiterin Nicole Titus mit Kooperationspartnern in Schulen und Stadtteiltreffs zusammengearbeitet. Denn vor allem soll es bei Südwind um Partizipation gehen. „Mir war es wichtig, Menschen wieder zusammenzubringen. Menschen unterschiedlichen Alters, aus verschiedenen Stadtteilen und mit verschiedenen sozialen Backgrounds. Nach einer Zeit, in der wir durch Corona und den Lockdown sehr für uns sein mussten“, sagt Nicole Titus. Die wichtigsten Eigenschaften, die sie für ihren Job mitbringen muss? Sie lacht. „Durchhaltevermögen. Gelassenheit. Flexibilität“, sagt sie dann.

Schon am Vormittag hatte Jens Burde zusammen mit einer Gruppe Zweitklässler gewerkelt. Die Kinder haben kleine Tragerl gebaut, die man sowohl als Tablett als auch als Sitzgelegenheit nutzen kann. Jetzt sitzt er beim Mittagessen. Seine Finger tragen noch blaue und lila Farbspuren. Er hat den Sonnenhut abgesetzt und erzählt davon, wie aus den Bauteilen der einzelnen Teams ein Gesamtkunstwerk entstanden ist. Bis zum Ende des Festivals wird er hierbleiben und mit den Kindern einfache Sitzmöbel aus Holz bauen – für den sofortigen Einsatz.

Zeit für Theater bleibt auch. Bei der Eröffnungspremiere von „All das Schöne“ fand er sich unversehens auf der Bühne wieder. Steven Cloos hatte ihn als Mitspieler rekrutiert. Er musste den Vater des Protagonisten geben und eine Rede improvisieren. Er lacht. „Ich habe mal eine Zeit lang mit einer Performance-Gruppe zusammengearbeitet und war dann häufiger während der Vorstellung als Bühnenbildner auf der Bühne gestanden, um Sachen zu bauen.“

Auch Ariel Doron hatte bei der gleichen Vorstellung einen spontanen Einsatz – als Sänger. Der Puppenspieler, der in Israel geboren wurde und mittlerweile in Berlin lebt, ist während des Festivals nicht nur mit seinem Walking Act „One Man Zoo“ unterwegs und bringt mit seiner Rucksack-Giraffe Passanten zum Lachen, sondern wurde mit seiner Inszenierung „Alarm im Streichelzoo“ (Münchner Schauburg) eingeladen. Einen Tag später also sitzt er auf der Bühne des Großen Hauses und beobachtet, wie diese beim Publikum (ab 8 Jahren) ankommt.

Theatrales Experiment um Macht und Verantwortung

Erst mal gibt es viele Ausrufe des Entzückens – „wie süüüüß“ –, wenn sich Hank, Bubbles und Hermi, menschengroße Wesen in knuddeligen Hamsterkostümen, aus ihrem „Streu“ buddeln. Doch die Stimmung ändert sich schlagartig, als der erste Hamster nach kurzem Aufenthalt im Labor leblos zusammenbricht, ein Nagetier den Pfleger Charly mit einem Taser außer Gefecht setzt und das junge Publikum darum streitet, ob man den Tieren zur Flucht verhelfen soll oder nicht. Wie gruppendynamische Prozesse funktionieren, lässt sich hier sehr gut studieren: „Frei – las – sen“, skandieren die einen. Während die anderen zunächst Tierpfleger Charly, später Frau Dr. Herzfeld assistieren. Dass hier irgendwas nicht stimmt, ist klar. Aber worum geht es?

Macht und Manipulation, Verantwortung und Mut, Herdengehorsam und Rebellion sind die großen Themen. Und am Ende wird klar, dass das Experiment nicht die Hamster betrifft, sondern die Zuschauer. Ein verblüffender Twist, der dem Publikum jede Menge Fragen mit auf den Weg gibt: Darf man sich raushalten, wenn man bemerkt, dass irgendwo etwas gewaltig schief läuft? Kann man vielleicht gemeinsam etwas bewirken? Und wenn ja, wie? Weil bei der Inszenierung alles vom Publikum abhängt, ist jede Vorstellung anders – eine große Herausforderung für die Schauspieler.

Insgesamt zehn Stücke hat die Jury für das Festival ausgewählt. Und schon die ersten zeigen, wie ungewöhnlich die Formate sind. Das Stadttheater Fürth war mit der Produktion „Hinterm Haus der Wassermann“ für Publikum ab 4 Jahren angereist. Eine Produktion, die Laut- und Gebärdensprache mit Tanz, Musik, Puppenspiel und Videoeinspielungen zu einem poetischen Märchen verknüpft. Dass mit Kassandra Wedel eine gehörlose Tänzerin als Köchin zur Kürbis-Wasser-Topf-Musik über die Bühne wirbelt, wird von den kleinen Zuschauern und Zuschauerinnen gar nicht hinterfragt. Ihnen geht es im Nachgespräch zunächst um technische Details: Wie kommen die Tanten auf die Handtücher, die Blubberblasen ins Wasser und die Tasse ins Spiel? Das Team um Regisseur Jochen Strodthoff gibt Auskunft – und verrät sogar, wie die Projektion „unter Wasser“ entstand: Die Sequenz, in der der Unterwasserherrscher mit der Prinzessin spricht, setzt sich aus zwei Filmen zusammen. Im ersten wurde Wasser im Aquarium gefilmt, im zweiten Kassandra Wedel mit wild wehenden Haaren (unterm Föhn), die rasend schnell gebärden musste, weil dieser Teil später in Zeitlupe abgespielt werden würde. Danach wurde beides verbunden. Erst später will ein Kind von Kassandra Wedel wissen: „Wie kann man sprechen, wenn man nichts hört?“ „Das ist, wie wenn man ein Instrument lernt“, antwortet diese. Außerdem: Sie konnte schon sprechen, als sie mit vier Jahren bei einem Unfall das Gehör verlor.

Poetische Geschichte über Körperbilder

Das Theater Mummpitz aus Nürnberg wurde mit „Paula und die Leichtigkeit des Seins“ eingeladen – nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Zoran Drvenkar. Darin geht es um das Mädchen Paula, das zur Außenseiterin wird, weil es immer schwerer und schwerer wird. Paula ist unglücklich – mit der Situation und sich selbst. Bis ihr Onkel aus Australien sie eines Tages in die Luft wirft – und sie sich dort zwischen Wolken und Baumkronen einrichtet. Plötzlich ist sie eine Sensation: das Mädchen, das die Schwerkraft überwunden hat.

In Andrea Maria Erls Inszenierung ist Paula eine Puppe in den Händen von Sabine Zieser. Özgür Kantar und Ferdinand Roscher spielen nicht nur alle anderen Rollen, sondern auch Gitarre und Kontrabass. Und alle drei zusammen erzählen die Geschichte einer Selbstbefreiung in einer überraschenden Mischung aus Artistik, Musik, Schau- und Puppenspiel bitterzart und komisch zugleich.

Phänomenales Kurbeltheatermit Witz und Botschaft

Einen echten Knaller hat das Theater Kunstdünger mitgebracht: „Schleichweg“ heißt das Stück für Publikum ab 4 Jahren, das sich in aberwitziger Weise um das Thema Verständigung dreht, aber dabei fast ohne Worte auskommt. Ein Mensch trifft auf ein merkwürdiges insektenartiges Wesen, das Papier liebt und sammelt. Und weil es außerdem den Schulranzen des Mädchens klaut, entspinnt sich eine abenteuerliche Verfolgungsjagd, die in ein unterirdisches Höhlenlabyrinth führt. Wie beide (Lydia Starkulla und Christiane Ahlhelm) miteinander kommunizieren, ist überaus witzig anzusehen. Der Clou ist aber das zentrale Kurbelbühnenbild, das Räume, Straßensituationen und Häuser auftauchen und wieder verschwinden lässt, mit klitzekleinen und riesengroßen Formen spielt, Einsichten gewährt (durch transparente Stoffe) oder verhindert (blickdichtes Schwarz) und als multifunktional bespielbares Objekt die Darstellerinnen immer wieder aufs Neue fordert.

Es gibt viel Gelächter – und am Ende einen süßen Gruß für die Mitwirkenden von Festivalleiterin Julia Mayr: selbst gebackene Macarons in den Festivalfarben. Und, wie war der Auftakt? „Der erste Festivaltag war ganz schön turbulent“, berichtet die Leiterin des Jungen Theaters. „Drei ganz unterschiedliche Vorstellungen, eine Premiere von uns selbst und dazwischen die Eröffnung. Die haben wir wegen der Regenwahrscheinlichkeit erst nach drinnen verlegt, um dann am Ende doch wieder alles zurückzubauen nach draußen, denn glücklicherweise hat das Wetter  ja dann doch gehalten! Als wir am Abend dann endlich auf der wunderschönen Terrasse des Theaterrestaurants saßen – zu der ich alle herzlich einladen möchte, es ist eine richtige Oase geworden! –, waren wir glücklich. Ich freue mich auf die nächsten Tage!“

DK