Pfaffenhofen
„Unsterblichkeit wäre furchtbar langweilig“

Simone Buchholz liest in Pfaffenhofen

28.10.2022 | Stand 22.09.2023, 4:00 Uhr

Zehnmal hat Simone Buchholz ihre trinkfeste Staatsanwältin Chastity Riley auf St.Pauli ermitteln lassen. Mit „Unsterblich sind nur die anderen“ hat sie sich an ein neues Projekt gewagt, das sie auf der Pfaffenhofener Lesebühne vorstellt. Foto: Gerald von Foris/Suhrkamp

Hamburg – Drei Männer verschwinden. Zwei Frauen machen sich auf die Suche nach ihnen. Zwar tauchen Tarik, Flavio und Mo an Bord der MS Rjukandi wieder auf. Doch auf der Nordatlantikfähre geschehen merkwürdige Dinge. Liegt das an den speziellen Reise-Tabletten gegen den wilden Trip auf hoher See? Die Zeit scheint aus den Fugen. Oder wie kann es sein, dass Kapitän Richard William Jones schon auf der Titanic Dienst tat? Plötzlich finden sich Iva und Malin inmitten von mythologischen Wesen wieder. „Unsterblich sind nur die anderen“ heißt das neue Buch von Simone Buchholz, aus dem sie am 4. November in Pfaffenhofen liest.

Frau Buchholz, Ihr neues Buch ist kein Krimi der Chastity-Riley-Reihe. Wieso denn das? 
Simone Buchholz: Die Geschichte war irgendwie zu Ende erzählt. Ich habe bei Band 9 schon gemerkt, dass ich diese Hauptfigur, mit der ich so viel Zeit verbracht habe, sehr gequält habe. Ich musste ihr mal eine Pause gönnen, sie reparieren. Das habe ich mit „River Clyde“ gemacht. Danach ging es nicht richtig weiter. Gleichzeitig hatte ich bei einer Reise 2019 auf einer Fähre auf dem Nordatlantik so viel erlebt, dass ich gemerkt habe: Da lauert ein neuer Roman.

In diesem neuen Roman nehmen Sie uns mit auf einen Trip in die Unendlichkeit.
Buchholz: Die Norröna ist eine Fähre, die die Färöer mit Häfen in Dänemark und Island verbindet. Ein Versorgungsschiff für die Inseln im Nordatlantik, das non-stopp fährt und bis Windstärke 10 Passagiere mitnimmt. Im November ist es ganz schön windig und die Wellen sind hoch. Aber man kann tolle Tabletten gegen die Übelkeit an Bord kaufen: hoch dosierte Tranquilizer, eine Art primitives Antidepressivum. Und wenn man die einnimmt, passieren ganz schön merkwürdige Dinge im Kopf.

Ihr Buch wurde gleich nach Erscheinen auf Twitter mit dem Hashtag #Segelsexbuch versehen. Wie fanden Sie das?
Buchholz: Erst mal war ich sehr erstaunt und habe mich dann gefragt, wie Suhrkamp reagiert. Aber der Verlag hat sofort gemerkt, wie schräg diese Kombination aus Suhrkamp und Sex ist. Meine Angst ist jetzt eher, die Leser in dieser Hinsicht zu enttäuschen. Denn es geht um viel mehr als um „segeln“. Es ist auf keinen Fall das neue „Fifty Shades of ...“

Zentraler Ort der Handlung ist die Bar. Warum ist das so ein magischer Ort?
Buchholz: Ein Tresen hat immer etwas von einem Kammerspiel. Leute kommen, setzen sich, schauen sich um, schießen sich den Kopf weg mit Alkohol. Es gibt Begegnungen, Gespräche entstehen, Dinge entwickeln sich. Die Bar war schon in meinen früheren Romanen ein zentraler Ort, um Fragen zu stellen, Antworten zu geben, Menschlichkeit zu zeigen. Und dann steht ja auch jemand hinter dem Tresen. Barpersonal ist wahnsinnig gut in dem, was es tut – vor allem im Menschenlesen. Ich habe selbst lange in Bars gearbeitet – nach dem Abitur und während des Studiums: Wenn sich ein Typ Ende 40 an den Tresen setzt und einen Espresso und einen Cognac bestellt, dann weiß ich, dass er gleich von seiner Scheidung erzählt.

Auf Ihrem Schiff ist die Barfrau eine Göttin und kann sich verwandeln.
Buchholz: Die Norröna fährt unter Färöer Flagge, weshalb ganz viel Personal von den Färöer stammt. Junge Leute können da gut Geld verdienen. Da stehen wahnsinnig schöne Männer und Frauen hinterm Tresen. So Wikinger halt. Und weil sie ständig wechseln, hat man das Gefühl, sie verwandeln sich. Letztes Jahr war ich noch mal auf diesem Schiff unterwegs – und habe das fasziniert beobachtet. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob die Norröna ein realistisches Schiff ist oder ob es da nicht ein bisschen klabautert.

Zumindest Ihr Kapitän war schon auf der Titanic tätig. Was hat Sie denn gereizt, den Mythos Titanic da noch hineinzustricken – zu den ganzen Meeresgöttinnen, Nereïden, Selkies?
Buchholz: Das passiert manchmal beim Erzählen. In einer ersten Recherche habe ich mich mit Schifffahrt und der See beschäftigt: der Mythos vom Fliegenden Holländer, Geisterschiffe, Ozeanriesen. Zwangsläufig landet man da bei der Titanic. Und weil der Kapitän für mich schon mit die wichtigste Figur ist, brauchte ich einen starken Grund, warum er auf diesem Schiff ist. Warum er mit Ende 50 so ein B-Schiff navigierte, bevor der Fluch der Götter ihn traf. Dazu musste vorher etwas gehörig schief gegangen sein in seinem Leben. Dieser Mythos Titanic war ungeheuer spannend, diese vielen Geschichten, diese viele Toten – und die Bürde der Überlebenden.

Ihr Buch ist ein Mix aus Versroman, Theaterstück und Mystery, hat cineastische, dann wieder märchenhafte Momente. Ist das beim Schreiben passiert oder gab es dazu ein Konzept?
Buchholz: Ich entwickle meine Stoffe lange vorher. Bestimmt ein halbes Jahr denke ich über die unterschiedlichen Perspektiven nach – in dem Fall Iva, der Kapitän und die Göttinnen. Und ich überlege mir sehr genau, welchen Sound ich diesen Stimmen jeweils gebe. Wie sich das formal zusammenfügt, verschiebt sich beim Schreiben.

Es liest sich vor allem sehr musikalisch. Hatten Sie Musik dazu im Kopf?

Buchholz: Ich höre beim Schreiben immer Musik. Die Kriminalromane hat Johnny Cash begleitet. Jetzt habe ich viel Leonard Cohen gehört. Es gibt zwei, drei Songs, die mich in die richtige Stimmung katapultieren. Ich habe einen relativ durchgetakteten Alltag, muss manchmal von jetzt auf gleich rein ins Manuskript. Da hilft Musik.

Was von Leonard Cohen?
Buchholz: „Suzanne“ habe ich immer wieder gehört. Auf dem Schiff, auf dem ich damals fuhr, gab es einen Musiker, der das Lied oft gespielt hat. Ola, der Musiker aus meinem Roman, hat große Ähnlichkeit mit ihm. Und: „Dance Me to the End of Love“. Das hat ein schönen Rhythmus. Wenn man das auf Repeat stellt, kommt man da gar nicht raus.

Wie kamen denn die Wassergöttinnen ins Spiel?
Buchholz: Im Internet findet man umfangreiche Mythologieseiten – mit tollen Bildern. Ursprünglich wollte ich ja nur eine Wassergöttin und war dann erstaunt ob der Menge und Vielgestaltheit der Wassergöttinnen. Poseidon ist zwar ein Mann, aber er hat 150 Töchter. Das weibliche Motiv ist hier sehr stark: Wasser ist Geburt, Wasser ist Schöpfung. Ich habe nach einer Stimme gesucht, aber diese Figuren sind wahnsinnig unterschiedlich. Es gibt starke Gottheiten, aber auch sehr zarte, denen Gewalt angetan wurde. Um allen gerecht zu werden, habe ich mir vorgestellt, dass ganz viele Frauen durcheinanderreden.
Was hat am meisten Spaß gemacht beim Schreiben? Was war am schwierigsten? 
Buchholz: Die Göttinnen haben sehr viel Spaß gemacht, vor allem, wenn sie sich als Barfrauen immer verwandeln. Das ist ja wie mit Anziehpuppen spielen. Ich habe lange gebraucht, bis ich den Sound für Iva gefunden hatte, weil ich in meiner Krimireihe so lange eine andere Protagonistin hatte. Das war harte Arbeit. Auch der Kapitän war eine Herausforderung. Vielleicht weil er die Figur ist, die mir am nächsten ist. Eine 138 Jahre alte Seele. Das war schon sehr traurig.

Wären Sie denn selbst gern unsterblich?
Buchholz: Auf keinen Fall. Ich bin 50. Natürlich sehe ich meine Zeit laufen. Ich war schon mal schwer krank und empfinde seither jeden Tag, jede Begegnung als Geschenk. Zwar könnte diese Angstfreiheit, dass nichts mehr passieren kann, sehr erholsam sein. Gleichzeitig würde einem das zentrale Menschsein abgeschnitten. Da wir geboren werden, um zu sterben, müssen wir uns entscheiden, was wir mit dieser Zeit anfangen, Prioritäten setzen, darüber nachdenken, was wir tun oder eben nicht tun. Daraus entsteht Sehnsucht, Liebe, Begehren, Freundschaft. Ich glaube, wenn ich unsterblich wäre, würde ich mich einfach nur hinlegen und warten. Es wäre furchtbar langweilig.

Die Fragen stellte Anja Witzke.

ZUR PERSON

Simone Buchholz, geboren 1972 in Hanau, studierte Philosophie und Literatur, bevor sie die Henri-Nannen-Schule absolvierte. Seit 2008 schreibt sie Kriminalromane. Für ihre schriftstellerische Tätigkeit wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. zweimal mit dem Deutschen Krimipreis. Ihr Roman „Unsterblich sind nur die anderen“ ist bei Suhrkamp erschienen, umfasst 264 Seiten und kostet 18 Euro. Am 4. November liest die Autorin um 20 Uhr im Pfaffenhofener Rathausfestsaal aus ihrem Buch. Karten gibt es online auf www.okticket.de und an der Abendkasse.

DK