„2 + 2 = 5“ schreibt Winston am Ende an die Wand. So wie die Partei das die Menschen glauben macht. Die Partei, die die Gedanken kontrolliert. Die Partei, die die Macht hat, über die Wahrheit zu gebieten. Und über Leben und Tod. Winston lebt, aber er ist körperlich und seelisch gebrochen. Am Ende des Roman heißt es: „Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den Großen Bruder.“
Als George Orwell „1984“ schrieb, war er bereits todkrank und entwarf – unter dem Eindruck der Entwicklungen in Deutschland unter Hitler und in der Sowjetunion unter Stalin – das düstere Szenario eines totalitären Überwachungsstaats, der jegliche Individualität zerstört, Geschichtsschreibung den aktuellen politischen Gegebenheiten „anpasst“ und Sprache als Instrument der Manipulation nutzt. „Big Brother is watching you“ heißt es hier in Ozeanien, wo die Einheitspartei drei Slogans verbreitet: „Krieg ist Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“ und „Unwissenheit ist Stärke“.
Am 8. Juni 1949 erschien die Erstausgabe des Buches in London. Genau 75 Jahre später gastierte das Ballettensemble des Theaters Hof bei den Theatertagen in Ingolstadt mit „1984“ in einer Choreographie von Ali San Uzer und Özkan Ayik im Großen Haus.
Spannungsgeladen und hoch emotional zeichnet das elfköpfige Ensemble die Geschichte nach. Erzählt von Winston Smith, Mitarbeiter im Ministerium für Wahrheit, der das System durchschaut und versucht aufzubegehren. Der heimlich eine Liebesbeziehung mit Julia beginnt und einer Widerstandsbewegung beitritt. Doch die Spitzel der Gedankenpolizei lauern überall. Winston und Julia werden verraten, gefangen genommen und gefoltert – im berüchtigten Zimmer 101. Wo jeden seine persönliche Hölle erwartet.
Düster, abweisend, kalt ist der Bühnenraum von Annette Mahlendorf mit dem zentralen Teleschirm, aus dem die Propaganda schallt. Etwa 2,50 Meter hohe schwarze Wände mit versteckten Türen und Klappen umrahmen ein Quadrat, das mit weißem Tape auf den Boden geklebt ist. Hier sieht man zu Beginn sowohl den Kontrollwahn der Parteiinstanzen als auch das rigide Alltagsballett der gleichgeschalteten Parteimitglieder – geduckte Körper, maschinenhafte Bewegungen, stupider Rhythmus. Doch einige von ihnen haben ein Geheimnis: Winston (David Santos Ollero), der verbotener Weise Tagebuch schreibt. Julia (Kana Imagawa), Rebellin aus Leidenschaft. O’Brien (Filippo Italiano), der ein doppeltes Spiel spielt und als Repräsentant des Großen Bruders auch als Inquisitor auftritt. Beeindruckend vielgestaltig ist ihre tänzerische Kommunikation, Nähe und Distanz, Macht und Manipulation. Für alle drei Tänzer gab es am Ende Extra-Applaus.
Aber die ganze Compagnie ist großartig, lässt die Bedrohung durch den Überwachungsapparat und die allmächtige Partei virtuos lebendig werden. Und bewegt sich energiegeladen, dynamisch, präzise zu diesem Sound-Mix aus Störgeräuschen, verzerrten Glockenspielmelodien, bitter-zartem Pop, Heavy Metal und pulsierenden Flächen. Ali San Uzer und Özkan Ayik choreographieren dichte, ausdrucksstarke Szenen, experimentieren mit verschiedenen Stilen und klassischen Elementen.
Man kann sich dem beklemmenden Wirklichkeitsbezug von „1984“ nur schwer entziehen. Chinas „Social Scoring“-System, Putins Geschichtsverfälschung, Trumps „alternative Fakten“, die Möglichkeiten der KI – die Wirklichkeit von 2024 hat Orwells Dystopie längst überholt. Langer Applaus!
DK
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