Die neue Schauspiel-Produktion des Staatstheaters Nürnberg greift an das heiße Eisen des Zuwanderungstopps. „Frontières Extérieures“ hat die „Handlungszeit“ 2025 und reicht durch „Spiegel“-Zitate weit zurück bis 1981. Schon damals gab es Stimmen, welche die Zuwanderung nach Deutschland verringern wollten.
Dann kamen 1993 die EU und deren Folgen, unter anderem seit 2004 die „Errichtung einer Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der EU-Mitgliedstaaten“. Das alles drängt sich bei der jüngsten Premiere auf 75 Minuten zusammen. Das schwarze Podest ist diesmal mit aufragenden Neonsäulen gegliedert. Dahinter Screens mit fiktiven Zeitdokumenten und Lerninhalten.
Training zur Abwehr von Flüchtenden
Eigentlich ist Cem Spieleentwickler. Er lebt mit gutem Gehalt, aber zu hoher Miete in einer Großstadt, deren Landessprache er nicht spricht. Da tritt eine EU-Agentur an ihn heran und gewinnt ihn für die Entwicklung der virtuellen Trainingssoftware Frontnite. Anwendende sollen dazulernen, um später reale Flüchtende abzuwehren. Cem, der damit auch Bollwerke gegen frühere Landsleute begünstigt, leistet ganze Arbeit: Seine Software zeigt eine mediterrane Landschaft mit hohen Zäunen, (männliche) Avatare mit toxisch ausgestellten sekundären Geschlechtsmerkmalen unter smarten Uniformen und Schusswaffen.
Alles soll so realistisch und subtil sein, um Learning Junkies zu züchten und bei der Stange zu halten. Betreffend Sinn und Ziel verharmlost Cems Software große Kontexte und minimiert Hemmschwellen zur Gewaltanwendung.
Gesamtkunstwerk aus Science Thriller und Dokumentation
Am Schluss verbeugt sich neben den Spielenden Adeline Schebesch und Aydın Aydın das Produktionsteam mit einem ganzen Rudel technischer Backstage-Assistenzen. Der Techniktheater-Enzyklopäde Luis August Krawen schuf zwischen Historizität und Zukunftsszenarium ein Gesamtkunstwerk aus Science Thriller, Dokumentation und vielen Videos.
Dieses Stück hat eine Spannung, aber auch das Ungefällige wie die Nürnberger XRT-Produktionen: Auch diese stellen jedes Mal andere unerwartete Herausforderungen an das Publikum – sie thematisieren auf KI basierende Ritualveranstaltungen, interaktive Computerspiele oder fiktive Biographien von vor 40 Jahren.
Ethische Empathiefähigkeit schwindet
Auch in „Frontières Extérieures“ überkreuzen sich reale, fiktive und kommunikationskritische Ansätze. Maria Angélica Guerreros Overall-artige Kostüme und Sebastian Heckners gelacktes Game Design akzentuieren die perfide Dynamik der Trainingssoftware Frontnite. Module und Schlagworte versprechen chromglänzende Effizienz mit hypnotischer Anziehungskraft, aber auch emotionaler Distanz. Ohne es eigens zu erwähnen, reduziert die Anwendung von Frontnite die ethische Empathiefähigkeit.
Krawen und Dramaturg Konstantin Küspert wissen, dass sie in Text, Theater und Technik nicht alles aus ihrem packenden Konzept präzisieren können. Deshalb macht der Wechsel vom szenischen Spiel zum technischem Equipment auch Inhalt. Erst rollt die Geschichte des paramilitärischen EU-Abwehrtrusts ab und kommen dessen Chefs in Bild. Krawen agiert nicht konsequent chronologisch. Auch diese scheinbare Nichtsystematik erzählt viel.
Perfekt zur Entwicklung von Medienkompetenz
Wenn erst Schebesch, später Aydın den gleichen Sachtext über die Stadien des Ertrinkungstodes als Sonderform des Erstickungstodes aufsagen, offenbart diese Wiederholung einen ganzen Strauß an Positionierungen und Affekten – Interesse, Schauder und sogar körperliches Unbehagen.
Das Projekt wurde während der ersten Probenwoche am Schreibtisch eingekreist und dann entwickelt. Insofern sind die menschlichen Darsteller zwar wichtig, aber nicht mehr primäre Faktoren für das Ineinanderwirken von Informieren, Aufklären und Fakten. Für höhere Schul- und Ausbildungsklassen ist „Frontières Extérieures“ das perfekte Modul zur Entwicklung von Medienkompetenz.
Dabei lassen Krawen und das gesamte Ensemble direkte moralische Implikationen außen vor. Äußerst virulent bleibt die Frage nach Manipulieren und Manipuliert-Werden. Tolles Stück, aber für die harmoniefreudige Adventszeit eine harte Nuss. Großer Applaus.
DK
ZUR PRODUKTION
Theater:
Extended Reality Theater
Staatstheater Nürnberg
Text, Regie, Bühne, Kostüme, Video-/Sounddesign:
Luis August Krawen
Game Design, Creative Coding: Sebastian Heckner
Vorstellungen:
bis 7. Januar 2025
Kartentelefon:
(09 11) 660 69 60 00
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