Hofesh Shechter gilt als einer der spannendsten Performer der internationalen Tanzszene. Der israelische Bühnenkünstler schreibt mit seiner Company seit Jahren im englischen Brighton eine Erfolgsgeschichte nach der anderen. Als Glücksfall kann man seine Zusammenarbeit mit der Stuttgarter Gauthier Dance Company seit 2017 sehen, inzwischen ist Shechter dort Artist in Residence. Noch mehr Glück hat man, wenn wann seinen atemberaubenden Tanzrausch „Contemporary Dance 2.0“ in Ingolstadt sehen darf.
Am Samstagabend kamen die Zuschauer im nahezu ausverkauften Großen Haus in diesen Genuss. Und auch wenn die rhythmisch pulsierende Tanzshow mit acht jungen Tänzerinnen und Tänzern nur 50 Minuten dauerte: Sie riss das Publikum von der ersten Sekunde an mit, frenetischer Beifall und Standing Ovations inklusive.
Viel länger als eine knappe Stunde ist der mitreißende Bewegungstaumel und der exzessive Ausdruckstanz dieser jungen Company auch körperlich nicht durchzuhalten. Denn Shechters Tanzwelten sind dunkel und roh, radikal reduziert auf absolute Körperlichkeit und präzise Choreografie. Hinzu kommt der einzigartige atmosphärische Soundtrack, den Shechter selbst komponiert hat. In Kombination sind diese beiden Komponenten ein Alleinstellungsmerkmal des Künstlers. Doch sie verlangen den Stuttgarter Tänzern auch viel an Präzision, Können und Durchhaltevermögen ab. In Ingolstadt meistern die Performer diese Herausforderung mit Bravour und versetzen sich selbst und das Publikum in einen regelrecht hypnotischen Flow: Das ist zeitgenössischer Tanz pur, und noch dazu auf dem nächsten Level: 2.0 eben.
Schockartig bricht der elektronische Soundtrack über die Zuschauer herein, während dichter Nebel über die Bühne wabert. Scheinwerfer durchbrechen ihn und strahlen von hinten die dynamischen Tänzer an, die da lasziv und geschmeidig, stockend und schüttelnd, händeringend und kreisend in immer neuen Formationen die hämmernden Beats in fließende Bewegung umsetzen. Damit startet „Part 1: Pop“ des fünfteiligen Tanzes um das Leben einer jungen Generation, die gleich zu Beginn klarstellt: Hier sind wir und wir tanzen uns selbst: unsere Hoffnungen und Ängste, unsere Suche nach Nähe und unseren Individualismus.
Sie finden sich in Paaren und Gruppen, als wogendes Kollektiv und kreisende Vierer- und Sechserkonstellationen, alles fließt und schwebt, driftet wieder auseinander und bewegt sich in perfekter Synchronität. Die Kleidung ist urban-leger, Geschlechtergrenzen verschwimmen, auch das ein Zug der Zeit. Trotz der harten Beats sind die Moves geschmeidig und von fast schwereloser Ästhetik, rauschhaft und energetisch, stets im Einklang mit der Musik, die alles trägt. Hier werden Hände zum Himmel ausgestreckt und Einzeltänzer behutsam über den Boden gezogen, Magie steht neben Abtauchen, Traum neben Realität, das Kollektiv holt den Einzelnen immer wieder ein.
Und auch die übrigen vier Teile des „Contemporary Dance 2.0“ haben es in sich. Der mystische „Part 2: With Feelings“ zeigt Ekstase pur, das Licht wechselt zwischen blau und gelb, Seelenschattierungen werden tänzerisch sichtbar. Die Musik ändert sich nur in Nuancen, ehe „Part 3: Mother“, exakt im Zentrum der drei Akte gelegen, eine widersprüchliche Auseinandersetzung mit der wichtigsten Bezugsperson im eigenen Leben inszeniert: Grandios wird hier das Ringen um die mütterliche Liebe dargestellt und zugleich als aufdringliche Fürsorge weggeschoben: Geborgenheit und Flucht, Achtung und Aufruhr, Nähe und Distanz – all dies wird hier im ureigensten Ausdrucksmedium des Körpers und der Bewegung sichtbar.
Doch plötzlich wechselt die Musik: Zu „Part 4: Comtemporary Dance“ werden die hämmernden Beats durch die weiche und tiefgründig-sanfte Air aus der 3. Suite für Orchester von Johann Sebastian Bach abgelöst und dieser Kontrast wirkt ungemein produktiv, erscheint doch nun das Aufbäumen und Kreisen, das Ringen und Wogen der Tänzer in einem ganz neuen Licht, fast wie ein Hinweis darauf, dass man seine Wuzeln und Traditionen noch nicht ganz vergessen hat. Natürlich mündet aber auch dieser Teil wieder in den aufbrausenden elektronischen Sound, der einfach das musikalische Kaleidoskop der jungen Tänzer und ihrer wogenden Bewegung darstellt.
Was folgt, ist „Part 5: The End“ und damit auch ein Stück Wahrheit, die freilich im Klischee der Sentimentalität daherkommt: Während ausgerechnet Frank Sinatras „My Way“ aus den Lautsprechern tönt und sich die acht Tänzer erneut euphorisch und fließend zu immer wieder neuen Formationen finden, spürt man die Authentizität, die von dieser intensiven Tanzkultur ausgeht: Sie sind jung und sie tanzen wirklich ihr Leben. Fernab aller gesellschaftskritischer Botschaften, ohne mahnenden moralischen Zeigefinger hat Shechter hier die Essenz der jungen Generation tänzerisch neu komponiert. Ihre Botschaft lautet: Tanzen, nichts als tanzen.
Zur Produktion:
„Contemporary Dance 2.0“ (Theaterhaus Stuttgart und Hofesh Shechter Company)
Choreografie & Musik: Hofesh Shechter
Lichtdesign: Tom Visser
Kostümdesign: Osnat Kelner
Weitere Vorstellung: Montag, 4.11., 19.30 Uhr
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