Worte, nichts als Worte. Material jedes Theaterstücks, wenngleich meist mit einer Handlung verbunden. Bei der Autorin und Performerin Nele Stuhler (Jahrgang 1989) ist alles anders: Ihr neuestes Werk, im Marstall uraufgeführt, umfasst allein im Titel 16 Worte, Begriffe, die als Dichotomien bezeichnet werden, also Gegensätze.
Darauf baut ihre klug komponierte Sprech-Partitur für drei Darsteller auf. Sie heißt „Und oder oder oder oder und und beziehungsweise und oder beziehungsweise oder und beziehungsweise einfach und“.
Ein Zungenbrecher, wie viele Passagen in dem Text, den zu lernen für Pia Händler, Myriam Schröder und Robert Dölle schon eine extreme Herausforderung war – bei einer Spieldauer von knapp pausenlosen 100 Minuten!
Umsetzung erinnert an Valentin und Karlstadt
Doch der Applaus belohnte das Trio: minutenlanges Klatschen und Trampeln, denn die Inszenierung von Franz-Xaver Mayr holte sowohl Komik, als auch Ernst und Melancholie aus den kunstvoll gesetzten Wortketten, Satzreihen, ja Gedankenströmen in der Tradition des Dadaisten Hugo Ball oder Ernst Jandls absurden Begriffsformationen.
In der Umsetzung wiederum war man immer wieder erinnert an so manchen Sketch zwischen Karl Valentin und Liesl Karlstadt – große Fußstapfen, in denen sich die junge Sprachkünstlerin Stuhler und ihr Regisseur mühelos bewegen.
Bühne und Kostüme, Musik und Licht – sie alle gehen eine Symbiose ein mit den drei Sprach-Akrobaten im Marstall. Geschminkt wie Clowns treten die Schauspieler in einen weißen Kreis, nehmen Kontakt auf mit dem Publikum, um schnell wieder zu verschwinden, bis sie ihr Mobiliar beisammen haben, einen quietschgrünen Tisch und ein paar weiße Plastikstühle.
Text verdichtet sich zu neuen Überraschungen
Der geheimnisvolle Kasten, der von der Decke baumelt, wird im Laufe des Abends zum rotierenden, wilde Rauchwolken ausstoßenden Kommunikationspartner, der Befehle und Ratschläge austeilt („Wasch dir die Hände“, „Glaub an dich“).
Die Performance beginnt mit simplen Begriffen wie „da“ und „weg“, um sich schrittweise zu dialektischen Fragestellungen zu erweitern. Doch die drei verwandeln selbst simple Worte durch wechselnde Betonung und modifizierte Lautstärke in pure Musik.
Mehr noch, denn im Laufe der Aufführung verdichtet sich der Text zu immer neuen Hör-Überraschungen, welche die drei in wechselnder Kostümierung befragen.
Neugierig wie Kinder spüren sie dem Sinn der Worte „Pipi Kaka“ nach, spielen wie diese mit Begriffen, verändern sie durch minimale Buchstabendreher, bis Neues wie „Messel und Gabel“ entsteht. Doch es bleibt nicht bei kindlichen Wortspielereien, es geht auch um Bildungsinhalte, wenn aus einem „Stück von Cy Twombly“ ein „Borg“ von „Ingewort Buchmann“ und ein „Ingebuch Wortmann“ wird.
Assoziationen zu jedem Bereich unseres Lebens
Eigentlich umkreisen die Assoziationsströme sämtliche Bereiche unseres Lebens, reichen sie doch vom Thema Großstadt „cool“ contra Land „doof“ bis zum Essen („vegane Wurst“), zur Politik („West-Ost“) oder philosophischen Grundfragen nach Leben und Tod.
Nele Stuhler modifiziert aber auch Floskeln, Redensarten und Sprichwörter, Verse und Fachtermini, denen das Bühnen-Trio nachschmeckt: Mal fragend, dann wieder staunend, erwartungsvoll, wütend, ja aggressiv und meist mit Humor, füllen sie die Worte mit Gefühlen, verwandeln sie unzusammenhängende Sentenzen zu Frage-Antwort-Spielen, ja selbst zu Miniatur-Dialogen oder Streitereien.
Selbst Begriffe wie Liebe und Hass werden durch Mimik und Gestik und unglaubliche Präzision der Körpersprache sichtbar gemacht. Alles wird bebildert und durch temporeiche Action aufgeladen. Manches wird mit Emphase und Furor gesprochen, anderes wird gesungen, gerappt oder getanzt. Und hält dank permanenter Abwechslung konsequent die Spannung – ein brillantes Sprachstück in einer bravourösen Aufführung!
DK
ZUR PRODUKTION
Theater:
Münchner Marstall
Inszenierung: FX Mayr
Bühne und Kostüme:
Korbinian Schmidt
Nächste Vorstellungen:
4., 16., 23. und 30. Oktober
Kartentelefon:
(089) 21 85 19 40
Zu den Kommentaren