Wohin entwickelt sich der moderne, der „freie“ Tanz? Keine ganz leichte Frage. Denn just durch die Freiheit sind die Möglichkeiten der Bewegung so gut wie unbegrenzt. Im klassischen Ballett des 19. Jahrhunderts war das Schrittmaterial vorgegeben, auch bestimmte Formationen des Corps de Ballet. In diesem Rahmen wurde eine Geschichte erzählt. Jetzt im freien Tanz kann, soll das tänzerische Gewebe ganz neu erfunden werden. Genau darum geht es in „Sphären 02“, einer jährlichen Plattform des Bayerischen Staatsballetts für den choreographischen Nachwuchs. Und zwar jeweils am Saisonende, diesmal im Münchner Cuvilliéstheater.
„Sphären 02“ ist ganz auf Frankreich konzentriert. Angelin Preljocaj, als Choreograph international gefragt und heuer Sphären-Kurator, hatte Émilie Lalande und Edouard Hue für jeweils eine Kreation eingeladen . Er selbst lieferte quasi das Warm-up mit seinem Männer-Duo „Un trait d’union“ (Bindestrich) von 1989. Zu deuten hier wohl als menschliche Verbindung in allen Phasen der Freundschaft, des Vertrauens, des Zweifels und der Abkehr.
Preljocaj ist Künstler genug, Gefühle nie direkt zu übersetzen. Und zieht uns so in den Bann von Andeutungen: jetzt ein Kämpfen gegeneinander, gleich eine kurze Umarmung, dann wieder Flucht, danach Auffangen und Hochstemmen des Partners. Severin Brunhuber und Konstantin Ivkin stürzen und fliegen geradezu durch dieses kampfsportartige Gefühlsduell, so dass man kaum auf die ab und an zugespielten Bach-Klänge achtet oder Marc Khannes geräuschiges Sounddesign voll wahrnimmt.
Jetzt zur choreographischen Zukunft: Émilie Lalande führt in ihrer Kreation „Le spectre de la rose“ zwei Stile zusammen, die sie geprägt haben: die Ballettklassik und die moderne Tanzsprache Preljocajs, bei dem sie zehn Jahre tanzte. Und diese Mischung ergibt bei ihr so etwas wie einen bunt bewegten Liebeskrieg zweier Paare: mit mal klassischer Hebung, mal akrobatischer Figur gleich danach. „Der Geist der Rose“: Théophile Gautiers schwärmerisches Gedicht und das gleichnamige Fokine-Ballett von 1911 sind nur noch Schatten vergangener Romantik. Und Carl Maria von Webers „Aufforderung zum Tanz“, wenn auch des öfteren anklingend, geht in real ausgekämpfter Paarbeziehung unter. Romantik also ad acta. Aber super getanzt haben Zhanna Gubanova, Phoebe Schembri, Matteo Dilaghi und der hochgewachsene Soren Sakadales. Und das auch ohne den Titel „Solist/Solistin“. Der gesamte Abend wurde von Gruppenmitgliedern gestemmt. Also auch: Ensemble-Hierarchie adieu.
Edouard Hue gestaltet seine Kreation „Skinny hearts“ (dürre Herzen) mit acht ganz jungen Tänzerinnen, alle feingliedrig schlank. Wie Wesen von einem fremden Planeten. Umhüllt von Jonathan Soucasses sphärischen Klängen nehmen sie die Bühne ein: in staksigen Schritten auf halber Fußspitze, den Rücken leicht gekrümmt, die Arme dabei fremdartig skurril mitgeführt. Sie scheren durcheinander, bilden Pulks und Reihen, steigern sich schließlich auch in klassische Schritte hinein – und ziehen wieder ab. Ein extraterrestrischer Spuk, in den man sich gerne hineinziehen lässt.
Nicht zu übersehen ist hier eine gewisse Ähnlichkeit mit Sharon Eyals „Autodance“ von 2018, vom Staatsballett übernommen erst in der Festwoche diesen April. Hat Hue sich davon inspirieren lassen? Und wäre diese quasi entartete Tanzform vielleicht auch zu deuten als Persiflage auf den allgemeinen Schönheitswahn unserer Gesellschaft? So ganz neu ist der Trend ja nicht. Valeska Gert (1892–1978) war diesem Trend mit ihren Grotesktänzen ja lange voraus.
DK
ZUR PRODUKTION
Theater:
Bayerisches Staatsballett
im Münchner Cuvilliéstheater
Choreographien:
Angelin Preljocaj:
„Un trait d’union“
Émilie Lalande:
„Le spectre de la rose“,
Edouard Hue: „Skinny hearts“
Bühne/Kostüme:
Nathalie Fontenoy,
Émilie Lalande, Edouard Hue
Nächste Vorstellungen:
20., 21. und 22. Juli
Kartentelefon:
(089) 2185 1920
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