Ingolstadt
"Ich würde mich nie wieder so reinsteigern"

Ex-Skispringer Sven Hannawald über Magersucht, Burn-out und den Tod von Robert Enke

03.02.2014 | Stand 09.01.2021, 3:33 Uhr

Ingolstadt (DK) Die Vierschanzentournee 2001/02 sicherte ihm einen Platz in den Sport-Geschichtsbüchern: Sven Hannawald gewann als erster und bis heute einziger Skispringer alle vier Wettbewerbe. Deutschland lag dem sympathischen Athleten zu Füßen. Zwei Jahre nach dem Höhepunkt seiner Karriere ließ sich der Sportler in eine Klinik einweisen – Diagnose Burn-out, mit 29 Jahren. In seiner Biografie „Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben“ hat Hannawald die Zeit zwischen Himmel und Hölle aufgeschrieben. Am 20. Februar ist er im Rahmen der „LeseLust“ im DK-Forum zu Gast.

Herr Hannawald, Noriaki Kasai hat kürzlich mit 41 Jahren ein Weltcup-Skispringen gewonnen. Seit 1988 springt der Japaner im Weltcup. Für Sie muss das nach einer Horrorvorstellung klingen.

Sven Hannawald: Mich freut es für ihn, weil er mit Abstand der Älteste ist. Das ist absolut phänomenal. Ich hätte auch Lust gehabt, das eine oder andere Jahr länger zu springen. Aber bei mir ging es nicht. Und ich weine dem auch nicht nach.

 

Sie waren Perfektionist. Nach ihrem Coup, alle vier Springen der Vierschanzentournee 2001/02 zu gewinnen, waren Sie sportlich am Ziel angelangt. Aber nicht glücklich.

Hannawald: Natürlich ist mir mit der Tournee etwas gelungen, was bis heute einmalig ist. Danach habe ich gemerkt, wie viel ich investiert hatte und dass ich eine längere Auszeit brauchte. Es hat lange gedauert, bis ich wieder Lust hatte.

 

Sie waren der beliebteste Sportler des Landes, Skispringen war angesagt, und an den Schanzen tummelten sich die Mädchen. Sie konnten das nicht genießen?

Hannawald: Natürlich, das war alles toll und schön. Ich hab’ mich damit aber nie komplett auseinandergesetzt, weil ich wusste, dass ich sonst nach meiner Karriere Probleme bekomme, wenn das alles nicht mehr da ist. Ich habe diese Welt zwar wahrgenommen, aber im Inneren wollte ich immer nur Skispringen.

 

Ab wann hat Ihnen der Sport, der die Erfüllung Ihres Kindheitstraums war, keinen Spaß mehr gemacht?

Hannawald: Das war ein schleichender Prozess. So ist das beim Burn-out. Du gehst nicht abends ins Bett, und alles ist gut, und morgens ist Rambazamba. Daher fiel es mir schwer, die ersten wirklichen Anzeichen auszumachen. Eine körperliche Überlastung hatte ich in mehreren Jahren, in denen ich die Saison früher beenden musste. Die jahrelange Arbeit, das ständige Leben am Gewichtslimit, die Erwartungshaltung an mich selber – wahrscheinlich war es programmiert, dass es irgendwann mal „Peng“ macht.

 

Skispringen verlangt unglaubliche Disziplin, gepaart mit einer großen Portion Tollkühnheit. Wie schafft man diesen Spagat zwischen Asket und Draufgänger?

Hannawald: Ich glaube, dass man da reinwächst, schon als Kind. Natürlich braucht man Talent. Und eine gewisse Abenteuerlust. Dabei muss man aber gleichzeitig Spaß haben. Aber man gewöhnt sich daran.

 

Je leichter man ist, desto weiter fliegt man. „Man gewöhnt sich daran, Hunger zu haben“, schreiben Sie. Sie zeichnen ein erschreckendes Bild von der Skispringer-Szene Ihrer Zeit.

Hannawald: Als es noch keinen BMI gab (Body-Mass-Index, der seit 2004 die Skilänge in Relation zum Gewicht festlegt, d. Red.), gepaart mit den weiten Anzügen, war es so: Je leichter, desto besser. In der deutschen Mannschaft gab es einige, die von der Sprungkraft her besser waren als ich. Wenn die ein besseres Gefühl für die Luft gehabt hätten, wären die immer vor mir gewesen. Aber ich habe es mit meiner technischen Raffinesse und meinem Gewicht geschafft, am Ende vor ihnen zu sein. Heute gibt es dank des BMI eine gewisse Grenze, was gut ist.

 

Sie schreiben, dass Ihr Ex-Kollege Janne Ahonen zeitweise nur 200 Kalorien am Tag zu sich nahm. Wie viele Ihrer ehemaligen Kollegen haben oder hatten eine Essstörung?

Hannawald: Der einzige Magersuchtfall beim Skispringen war Christian Moser, der auch in einer Klinik behandelt werden musste. Alle anderen waren Grenzgänger. Mit Magersucht kannst du nicht springen. Meine Grundregel war immer: Mehr verbrennen als essen. Mit 200 Kalorien hätte ich nie leben können. Ich weiß nicht, wie ein Ahonen das durchgehalten hat. Wenn ich Appetit auf etwas hatte, habe ich mir das gegönnt. Dementsprechend bin ich in der nächsten Einheit aber auch länger gelaufen.

Am Ende wogen Sie nur noch 61 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,85 Metern.

Hannawald: Das war damals einfach so. Egal in welcher Sportart: Wenn es Löcher im Reglement gibt, geht man als Profi den extremen Weg, weil man den Erfolg möchte. Profisport ist keine Hobbyveranstaltung. Du gehst den Weg, weil du weißt, dass es nicht dein ganzes Leben so läuft. Fertig.

 

2003 war Ihr Weg zu Ende. Unruhe, Motivationsverlust, Freud-losigkeit – aber Sie wussten nicht, was mit Ihnen los war. Kein Arzt konnte helfen.

Hannawald: Eine gewisse Müdigkeit meines Körpers war ich gewohnt. Aber ab einem bestimmten Zeitpunkt war eine Unruhe in mir, die immer stärker wurde. Ich habe es mit speziellerem Training probiert. Grade beim Laufen: Früher bin ich immer locker gelaufen und plötzlich wie ein Bekloppter gerannt. Nur um das Gefühl zu bekommen, Herr über die Unruhe zu sein. Das alles hat nichts gebracht. Dieser Kreislauf hat mich verrückt werden lassen.

 

Wer konnte Ihnen helfen?

Hannawald: Ich habe Ärzte aus den verschiedensten Bereichen aufgesucht. Die haben auch nichts gefunden. Organe, Blut, alles toll. Als ich dann 2004 nach einem Urlaub mit meiner Freundin völlig zusammengebrochen bin, hat ihre Mutter einen Termin bei einem Arzt für Psychosomatik gemacht. Der hat mir dann die Diagnose Burn-out gestellt und mir einen Klinikaufenthalt empfohlen. Ich wusste nicht, was dieses Burn-out sein soll. Aber das war mir auch egal. Es war zumindest irgendeine Diagnose.

 

Hätten die Ärzte Ihren Burn-out nicht früher bemerken müssen?

Hannawald: Wenn ich das Wissen von heute gehabt hätte, wäre ich gleich zu dem Arzt für Psychosomatik gegangen. Ich bin als Letztes davon ausgegangen, dass der Kopf damit etwas zu tun haben könnte. Es sind ja auch körperliche Signale, die man spürt.

 

Fußball-Torwart Robert Enke, der ebenfalls an einem Burn-out litt und Depressionen hatte, warf sich 2009 vor einen Zug. Wie haben Sie die Nachricht aufgenommen?

Hannawald: Das ist erschreckend. Im Nachhinein bin ich heilfroh, dass ich mich direkt nach der Diagnose in die Klinik begeben habe. Das tragische Ende von Robert Enke hat den Leuten aber auch bewusst gemacht, dass Burn-out eine gefährliche Erkrankung ist. Ich hätte mir natürlich trotzdem gewünscht, dass so was niemandem passiert.

 

Haben Sie Angst vor einem Rückfall?

Hannawald: Ich würde das nie wieder zulassen. Ich würde mich heute nie wieder in eine Aufgabe so reinsteigern, wie das beim Skispringen der Fall war. Ich habe gelernt, dass ich auch mit 80 Prozent zufrieden sein kann. Ich habe meine innere Stimme wiedergefunden, auf die ich mich verlassen kann.

 

Burn-out gilt inzwischen als „Modekrankheit“. Was denken Sie, wenn jemand vier Wochen nach einem angeblichen Burn-out wieder fit ist?

 Da stellen sich mir die Nackenhaare auf. Ich nehme gerne das Beispiel der „Rote-Teppich-Fraktion“, die für ihre Bekanntheit ständig News braucht. Wenn solche Leute nach zwei Wochen wieder über den roten Teppich laufen, dann krieg’ ich die Krise. Das ist ein Nackenschlag für die Leute, die wirklich krank sind.

 

Das Interview führte

Alexander Petri.

 

Sven Hannawald bei der

LeseLust-extra im DK-Forum:

am 20. Februar, 19.30 Uhr, mit seiner Biografie

„Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben“.

Mehr Informationen unter

donaukurier.de/leselust