U-Bahnstation am Königsplatz
Lenbachhaus München zeigt die Schau„Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus und Antifaschismus“

28.11.2024 | Stand 28.11.2024, 15:05 Uhr |
Barbara Reitter-Welter

Auch so kann surrealistische Kunst aussehen wie Victor Brauners „Totem de la subjectivité blessée I“I (Totem der verwundeten Subjektivität II). Foto: Image Centre Pompidou

„Die menschliche Seele ist international“. Dieses Zitat stammt nicht etwa von einer Hilfsorganisation für Geflüchtete aus Ländern, in welchen die Menschenrechte gefährdet sind. Er stand in einem internationalen Bulletin zum Surrealismus, das 1935 in Prag veröffentlicht wurde.

Noch immer ist der Begriff Surrealismus für die meisten an eine Kunstrichtung gekoppelt, die sich vorwiegend in Frankreich verortete und an Bildklischees wie zerfließende Uhren oder Lobster-Telefonen hängt. Namen wie Salvador Dali, Max Ernst, René Magritte, Joan Miró oder Yves Tanguy stehen dafür – und sind nun mit exemplarischen Werken in München zu sehen.

Kunstbau unter der U-Bahnstation

Vielleicht assoziiert man auch ein paar Dichter, die innovative Poesie verfassten. Von Künstlern und Literaten wurde jedenfalls eine Bewegung initiiert und getragen, die in erster Linie politisch war. Dass sie global agierte, demonstriert ein ungewöhnliches Projekt des Lenbachhauses, das im Kunstbau unter der U-Bahnstation am Königsplatz erstmalig die Vielfalt und Reichweite des Surrealismus vorstellt.

Schon das Motto provoziert: „Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus und Antifaschismus“. Dahinter steht zunächst eine bittere Tatsache: Der Surrealismus fand überall in der Welt statt, hatte internationale Protagonisten, war zwischen Paris und Prag, Marseille und Mexiko aktiv, nur nicht hierzulande.

Surrealismus kämpfte gegen den Faschismus

Deutschland ist die große Leerstelle, in erster Linie natürlich dem nationalsozialistischen Regime geschuldet, vor dem deutsche Surrealisten wie Wols, der Fotograf der Neuen Sachlichkeit, ins Exil flohen. Denn der Surrealismus kämpfte gegen den Faschismus, beispielsweise im Spanischen Bürgerkrieg, kritisierte Welt- und Kolonialkriege, war zutiefst antikapitalistisch und schuf, bestens vernetzt, Solidarität über sämtliche Grenzen hinweg. Literarisch manifestierte er sich in der Dekonstruktion klassischer rationaler Sprachmuster, wie man es bei Breton und Georges Bataille findet.

Malerisch artikulierte er sich in Fantasieformen jenseits realistischer Zuschreibungen wie Max Ernsts bedrohlichem „Hausengel“ oder Victor Brauners aggressivem Gemälde „Totem der verwundeten Subjektivität“, das auch als Plakat-Motiv gewählt wurde. Während John Heartfield Hitler in seinen Polit-Collagen direkt attackierte, verfassten Claude Cahun und ihre Partnerin auf New Jersey Paper Bullets, winzige Flugblätter, mit denen deutsche Soldaten zu Sabotage und Widerstand gegen Hitler aufgerufen wurden.

Hundert Jahre Surrealismus

Selbst im Gefängnis kritzelten sie ihre Botschaften noch auf Zigarettenpackungen. Die politische Langzeitwirkung zieht sich bis ins die Gegenwart, denn auch die radikale 68er-Bewegung und Mitglieder der amerikanischen Black Liberation bezogen sich auf das progressive Gedankengut der Surrealisten.

Anlass der Schau ist das hundertjährige Jubiläum des Surrealismus, denn im Oktober 1924 wurde das legendäre surrealistische Manifest des geistigen Vaters André Breton veröffentlicht, das neben der „Allmacht des Traums“ auch das „zweckfreie Spiel des Denkens“ im Geiste des Dada propagierte.

Sie arbeitet sich nicht etwa an einer Chronologie ab, sondern strukturiert die Exponate nach einzelnen „Episoden“. Man findet dokumentarisches Material wie antifaschistische Flugblätter neben Büchern, Fotografien, darunter Aufnahmen von Germaine Krull oder Lee Miller, dazu widerständische Collagen, stilistisch innovative Gemälde neben kollektiven Zeichnungen, aber auch bislang unbekannte Film- und Tonaufnahmen.

Architektur-Ikone: Pavillon für Madrider Weltausstellung

Große Banner mit Schlagworten weisen den Weg durch das Labyrinth, ausführliche Texttafeln instruieren die Besucher über die Aktivitäten surrealistischer Künstler, irritierende Tonfolgen begleiten ihn zu den einzelnen thematischen Stationen, die zu einer Architektur-Ikone führen: dem Modell des Pavillons für die Madrider Weltausstellung 1937, wo auch Miró und Picasso ausstellten.

Im Zentrum des Spanischen Bürgerkriegs stand natürlich Picasso, dessen Widerstand im Jahrhundertwerk „Guernica“ gipfelte, das natürlich nicht zu sehen ist. Doch er unterstützte die Bewegung ideell wie finanziell in ihren revolutionären Zielen.

DK


Kunstbau Lenbachhaus, U Bahnstation Königsplatz, Zwischengeschoss, bis 2. März 2025, Di – So 10-18, Do bis 20 Uhr.

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