Konzert der großen Emotionen

Politik, Tränen und grandiose Musik: Das International Symphony Orchestra Lviv bei den Sommerkonzerten

07.07.2022 | Stand 22.09.2023, 21:29 Uhr

Nationales Pathos in blau-gelb: Lisa Batiashvili spielt das „Requiem für die Ukraine“ von Igor Loboda. Alle Einnahmen aus den Konzerten der Sommerkonzerte spendet Audi an die Ukraine. Foto: Audi

Von Jesko Schulze-Reimpell

Ingolstadt – Wie viel Tränen verträgt ein Konzert? Wann wird die politische Demonstration größer als das musikalische Ereignis?

Das kurzfristig ins Programm genommene Solidaritätskonzert im Rahmen der Audi-Sommerkonzerte jedenfalls geriet zunächst zum Anschlag auf die Tränendrüsen. Denn das Publikum sah Musiker aus der militärisch bedrängten Ukraine, wie sie für ihr Land und ihre Freiheit spielten, wie sie mit Geigenbogen und Trompete in eine Schlacht ganz eigener Art zogen. Das International Symphony Orchestra Lviv (INSO-Lviv) war in einer zweitägigen beschwerlichen Busfahrt angereist, um zusammen mit der Geigerin Lisa Batiashvili im Ingolstädter Festsaal aufzutreten. Da scheint es am Ende weniger um gute Musik zu gehen als vielmehr um politischen Einsatz.

Dazu passte besonders der Beginn des Konzerts mit der ukrainischen Nationalhymne. Kaum erklangen die ersten patriotischen Akkorde, wandte sich Orchesterleiter Nikoloz Rachveli zum Publikum und forderte es mit Gesten auf, sich zu erheben. Kaum weniger pompös ging es weiter mit Mykola Lysenko „Taras Bulba“ für großes Orchester.

Etwas später betrat Festivalleiterin Lisa Batiashvili die Bühne – stellte Orchester und Musik vor und redete dabei so emotional, aber auch so authentisch wie kaum je zuvor bei dem Festival. Man spürte, wir ihr die Tränen in den Augen standen, als sie fast beschwörend davon sprach, dass der Krieg in der Ukraine auch unser Krieg sei.

Das alles erweckt große Gefühle. Aber ein gelungener Konzertabend sollte mehr sein, er sollte vor allem großartige Musik präsentieren. Und genau das gelang.

Bereits das dritte Werk des Abends wirkte überraschend. Valentin Silvestrovs Werk „Der Bote“ ist nach all dem etwas hohlen Pomp ein zutiefst zerbrechliches Werk, ein postmoderner Nachklang der Musiktradition. Leise Melodien, die an Mozart erinnern, ertönen so fragil, so verzögert und nachdenklich, als wären sie aus einem längst vergangenen Zeitalter gespenstisch wiedererstanden – wie alte vergilbte Familienbilder, die in irgendeiner Schublade gefunden wurden. Plakativer wirkte da Nikoloz Rachvelis eigene Komposition: „Why – Tragic Music in Memory of Children Victims in Wars”. Während Bilder aus dem Ukraine-Krieg über die Leinwand glitten, dröhnten in seiner Musik unheilschwanger die Posaunen, klopfte beim Schlagzeug das Schicksal an und Trompeten und Streicher badeten in Dissonanzen. Da ist der Effekt fast schon zu dick aufgetragen – wenn die Musik nicht doch so interessant wäre und die Musiker nicht so großartig spielen würden. Vor allem Nikoloz Rachveli ist ein verblüffender Vollblutmusiker, der jederzeit das musikalische Geschehen in der Hand hat – ob als Komponist, Pianist, Dirigent oder alles gleichzeitig.
Nach der Pause dirigierte er das wahrscheinlich tiefgründigste Werk des Abends: „Valse Boston“ des georgischen Komponisten Giya Kancheli. In dem alptraumhaften Stück scheint sich aus Motivfragmenten, langen Momenten der Stille, aus einer trillernden Kadenzfigur allmählich ein Tanz zu entwickeln, der sich allerdings niemals wirklich frei entfalten kann. Gerade in Zeiten des Kriegs, wenn ukrainische Musiker spielen, scheint diese Musik noch einmal eine andere Bedeutung zu erhalten, noch sehnsüchtiger zu klingen, wie eine erdrückte Hoffnung auf Schönheit.

Dann spielte Lisa Batiashvili als Solistin drei Werke: eine fast etwas kitschige „Melodie“ von Myroslaw Skoryk, das berühmte Motiv aus dem langsamen Satz der Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ von Antonín Dvorak und das „Requiem für die Ukraine für Violine solo“ von Igor Loboda, einem Mitglied des Georgischen Kammerorchesters. Letzteres Werk war wieder mit einem Video kombiniert – was in diesem Fall eigentlich eher unnötig war. Denn Lisa Batiashvili spielte so kraftvoll, mit so viel orchestraler Klangfülle, mit solcher Energie das quälende Stück, das anlässlich des ersten Ukraine-Kriegs 2014 komponiert wurde, dass der Blick auf die Bilder völlig überflüssig war.
Am Ende ein Stück Hoffnung:

Das wunderbare Orchester aus Lviv entführte mit Levko Kolodub „Karpatenrhapsodie“ in eine idyllische Landschaft voller Vogelgezwitscher, rauschender Bäche, majestätischer Bergpanoramen. Auch das ist die Ukraine. Ein grandioser, optimistischer Ausklang in einem eher depressiven Umfeld. Das Publikum spendete tief bewegt dem hervorragenden ukrainischen Orchester Standing Ovations, das sich mit dem schwelgerischen „Finlandia“ von Jean Sibelius bedankte.

Selten trafen bei einem Konzert so viele unterschiedliche starke Eindrücke aufeinander: Naturschönheit, Krieg, Trauer, Wut, grandiose Musik. Zeitgemäßer, packender, aktueller kann ein klassisches Konzert kaum sein.

DK