Wendelstein
Jamie Cullum begeistert beim Jazz & Blues Open in Wendelstein

Im Herbst kommt er zu den Ingolstädter Jazztagen

01.05.2022 | Stand 23.09.2023, 1:42 Uhr

Jamie Cullum rockt Wendelstein: Das Konzert war natürlich ausverkauft. Foto: Leitner

Von Karl Leitner

Wendelstein – Es gibt nicht viele von ihnen. Sie sind als hervorragende Pianisten dem Jazz verpflichtet und als begnadete Songschreiber dem Pop, wissen ganz genau, wie schlüssige Arrangements funktionieren, verfügen über unverwechselbare Stimmen und persönliche Ausstrahlung und bedienen mit ihrer Musik Kopf und Bauch. Bruce Hornsby, Jon Regen, Paddy Milner und Donald Fagen gehören in diese Kategorie.

Und natürlich dieser Jamie Cullum aus London, der sie irgendwie alle toppt und im Rahmen des kleinen aber feinen Jazz & Blues Open Festivals in Wendelstein die große Halle des dortigen Sportclubs, die seit Monaten komplett ausverkauft ist, mal eben kurz auf links dreht. Selten hat man ein Publikum erlebt, das so entschlossen ist, nach zwei Stunden partout nicht nach Hause gehen zu wollen und statt dessen auch dann einfach weitersingt, als der Verursacher der kollektiven Ekstase längst in der Garderobe verschwunden ist.

Jamie Cullum ist ein Mann für alle Fälle. Ein akribischer Pianist und zugleich eine echte Rampensau, jugendlicher Lausbub und versierter Komponist, Verfasser nachdenklicher Texte und auf der Bühne herumturnendes Stehaufmännchen, ein Perfektionist hinsichtlich der Konzertdramaturgie, der aber auch Spontaneität zulässt, ein routinierter Profi, der das große Auditorium von der ersten Sekunde an in der Hand hat, jedem Einzelnen aber auch das Gefühl gibt, er befände sich in einem intimen Jazzclub und er spiele nur für ihn ganz allein. Die Kracher „Taller“ und „The Age Of Anxiety“ eröffnen den Abend, weiter geht’s mit „Mankind“, ganz anders als im Original in Form einer zerbrechlichen Ballade, dann folgt der Schlenker hin zum Swing und Cole Porters „I Get A Kick Out Of You“, zum von der achtköpfigen Band gemeinsam intonierten A-cappella-Intermezzo nach Art der Housemartins, zu hervorragenden Covers von Dinah Washingtons „What A Difference A Day Made“ und „Shape Of You“, wobei Ed Sheeran und dessen Originalversion plötzlich ziemlich alt aussehen.

Cullum sitzt wie in Gedanken versunken am Klavier und singt einen seiner bittersüßen Lovesongs, dann springt er plötzlich auf, turnt auf dem Instrument herum, sprintet über die Bühne, fuchtelt mit den Armen, dirigiert seine Band. Bei ihm ändern sich innerhalb eines Sekundenbruchteils Stimmung, Stilistik und Gestus, wobei das Pendel enorm stark ausschlägt. Man weiß nie genau, was als nächstes folgt, nichts wirkt einstudiert, obwohl es das natürlich ist. Nur eines ist offensichtlich: Was dieser Jamie Cullum auch immer tut, das macht er mit Haut und Haaren und einer ziemlich großen Portion Herzblut.

Kurz nach der Jahrtausendwende hat er einen Song mit dem doppeldeutigen Titel „Twentysomething“ geschrieben, der bis heute eines seiner bekanntesten Stücke ist und zugleich Markenzeichen seiner Art des Contemporary Jazz. Jetzt ist er 43, nach wie vor musikalisch irgendwie altmodisch und modern zugleich und somit also im Grunde zeitlos.

Vermutlich lieben ihn seine Fans genau deswegen, weil er mit diesem Konzept die Befindlichkeit jedes Einzelnen trifft. Jeder findet sich bei ihm bestens aufgehoben, vielleicht nicht in jeder Phase des Konzerts, aber doch meistens. Und wenn dann auch noch das dramaturgische Konzept so wunderbar aufgeht wie in diesem Fall und sich am Ende alles rundet zu einer in jeder Hinsicht schlüssigen Gesamtshow, dann hat man das tatsächlich Gefühl, dass die Welt draußen vor der Halle gar nicht so bedrohlich und aus den Fugen ist, wie es derzeit den Anschein hat. Pop bedeutet auch Illusion. Das war schon immer so.

Im Herbst wird Jamie Cullum bei den Jazztagen auch in Ingolstadt auftreten. Bitte unbedingt hingehen! Aber warm anziehen! Der Mann ist ein Orkan. Freilich, allzu warm auch wieder nicht, denn es dürfte ein heißer Abend werden.

DK