Intensive Selbstbefragung

„Magda Toffler. Versuch über das Schweigen“: Boris Nikitins Familienerkundung als Monolog in Nürnberg

20.11.2022 | Stand 19.09.2023, 4:40 Uhr |
Roland Dippel

Dokumentarisches Monodrama: Boris Nikitin ist Schweizer Theatermacher. In den Kammerspielen des Schauspielhauses Nürnberg wird er zum Vortragenden, wenn er die eigene Familiengeschichte zum Thema macht. Foto: Fersterer

Von Roland H. Dippel

Nürnberg – Boris Nikitin ist für Überraschungen gut: In seinem Projekt „Magda Toffler. Versuch über das Schweigen“ sitzt er allein auf der Bühne der Kammerspiele im Schauspielhaus des Staatstheaters Nürnberg. Nur er, der in Berlin und Basel lebende Theatermacher, und neben ihm ein Papierstapel. Das nach Nach-Hinten-Rücken seines Stuhles bedeutet in 70 Minuten schon das Höchstmögliche an szenischer Aktion. Das erstaunt auch, weil Nikitin sein Stück „Erste Staffel – 20 Jahre großer Bruder“ für Nürnberg mit beträchtlichem Equipment erarbeitet hatte. Und jetzt diese leere schwarze Fläche – bei geballter Inhaltlichkeit, intensiver Selbstbefragung und dem abschließenden Bruch durch die These, dass nichts so illusionär ist wie gut gemachtes dokumentarisches Theater. Denn dieses erwecke den Anschein objektiver Gestaltung und liefere dabei doch nur subjektive Selektion wie jede andere Theaterform.

Dramaturg Fabian Schmidtlein erläuterte in seiner Einführung Nikitins Dekonstruktion des Wirklichen im Theater, seinen Anspruch auf Sichtbarmachung des „Verhältnisses von Fiktion und Realität“. Die „Reflexion des Theaters selbst und des Produktionsprozesses ist stets ein wichtiger und sichtbarer Teil“ von Nikitins Arbeit.

Das gilt allerdings weniger für die Spielsituation von „Magda Toffler“, weil Rezitation etwas ist, was der Vortragende meistens mit sich und nicht in einem künstlerischen Team ausmacht. Natürlich hängt man an den Lippen des strukturierten Grüblers Nikitin, der – gerade weil er die Mittel des Theaters freilegt und damit zu einem höchst eigenwilligen Verifizierungsvorgang kommen will – vom Publikum einen besonders hohen Vertrauensbonus erhält. Nikitin durchbricht also mit seiner eigenen Familiengeschichte die Konventionen des systemstabilisierenden Schweigens. Dieser Vorstoß bedeutet für den schwulen Sohn ukrainisch-slowakisch-französischer Einwanderer eine noch größere Identitätserweiterung. Denn jetzt ist er auch Jude. Und über den Hergang, wie es zu dieser Erkenntnis und Gewissheit kam, geht es in diesem dokumentarischen Monodrama und auf der Theaterbühne mit Neugier-, Sehnsuchts- und Erkenntniswucht ausgebreiteten Vorgang.

Alles ließe sich im Programmheft nachlesen, gewinnt allerdings im Vortrag, der zugleich rhetorische Distanzierung und zum Ritual erhobene Affektverdichtung beinhaltet, die noch packendere Bedeutung. Nikitin erfuhr beim Tod seiner 87-jährigen Großmutter, dass sie aus einer jüdischen Familie stammte. Über die im Nationalsozialismus und bei den Pogromen erfahrenen Versehrungen hat sie ihr ganzes weiteres Leben geschwiegen. Nikitin unternahm eine Reise nach Tel Aviv zu den jüdischen Verwandten und zur Cousine seiner Großmutter. Durch diesen Erkenntniszuwachs begreift der Theatermacher Nikitin die Erweiterung seiner familiären und eigenen Identität, seines Wissens und seiner Selbstpositionierung. Was Nikitin damit strukturell bewirken wollte – eine Untersuchung der „Mechanik des Schweigens“ – gerät bei diesen menschlich-dramatischen Ansprüchen ins Hintertreffen.

Lesesituation und Nikitins Isolation im Scheinwerferlicht, wirken zutiefst authentisch. Selbst wenn er sich auf seine in Nürnberg aufgeführten Stücke „Versuch über das Sterben“ und „Aufführung einer gefälschten Predigt“ bezieht und auf ein dieses Vorwissen parat habendes Publikum zählen kann, ist der Bericht über die Reise ins Land der im Judentum die Religion des Nachwuchses bestimmenden Mütter stärker ist als seine Reflexion über Anlass, Produktion, dramaturgische Selektion und Stringenz dieses kargen Vortragstheaters.

Die affektive Spannung hält weit über das fast abrupte Ende und den Applaus hinaus. Das Koproduktion mit Kaserne Basel, Ringlokschuppen Ruhr, Théâtre Vidy Lausanne, HAU - Hebbel am Ufer Berlin, Frascati Amsterdam, Theater Chur und Omanut ist zudem der treffliche Beweis, dass Text- und Rezitationstheater ohne Video und szenische Überraschungscoups erstaunlich gut funktioniert, wenn das Sujet passt. Das einzige Monotone an dem Abend war der Applaus, welcher für Zuschauer von Einpersonenstücken ja immer eine etwas mühselige Angelegenheit ist, weil er den tiefen Eindruck vom Gebotenen nicht angemessen spiegelt.

DK


Schauspielhaus Nürnberg, Kammerspiele: Weitere Aufführung am 23. November und mehrere Termine von Januar bis April 2023.

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