Nacheinander stolpern, schreiten, springen sie auf die Spielfläche: sechs junge Menschen in grau-grauen Freizeit-Outfits mit Hüten und Caps, Rucksack, Sonnenbrille, Fotoapparat. Zunächst ist Kennenlernen angesagt, staunendes Betrachten der Gruppenmitglieder, die sich alsbald zu einem Körper formieren und aufbrechen zur Suche nach den Farben.
Oliver Sacks stand Pate zu diesem Setting, hatte doch der amerikanische Neurowissenschaftler und Literat in seinem Roman „Die Insel der Farbenblinden“ eine Expedition auf das Südsee-Atoll Pingelap beschrieben, auf dem überproportional viele Einwohner völlig farbenblind sind.
Doch dieses Buch ist nur eine der Inspirationsquellen für die neueste Produktion der Freien Bühne München mit seinem mix abled Ensemble, die nach der Uraufführung an den Kammerspielen jetzt an verschiedenen Spielorten in und um München tourt.„Der gelbe Klang“ heißt die Stückentwicklung unter Leitung der Regisseurin Verena Regensburger, seit einem Jahr auch künstlerische Leiterin der inklusiven Ausbildungsstätte der FBM.
Synästhesie aller Künste
Der Titel ist in Anlehnung an Wassily Kandinskys Bühnentext gewählt, der zwar 1912 im Almanach „Der Blaue Reiter“ veröffentlicht, dessen Komposition aber nie fertiggestellt wurde. Doch sein intellektuelles Konzept der Synästhesie aller Künste trägt, ja formt diesen Abend zu einer faszinierenden, ungeheuer kreativen und kurzweiligen Performance, die Fragen stellt wie „Riecht Salz?“, „Schmecken Felder?“ oder „Kitzelt graues Gras?“.
Bald schon trägt die Suche des spielfreudigen Sextetts bunte Früchte. Während der schwarze Bühnenraum im Schweren Reiter dominiert wird von einem riesigen weißen, mit dem Schwung einer sanften Halfpipe drapierten Tuch, wie es der Fotograf Stefan Moses konsequent für seine Porträts verwendete, tun sich neue Welten aus dem RAL Katalog der tausend Farbnuancen auf.
Das Essen einer Orange unter der Dusche
Mira Fritzsches erster Auftritt ist der Farbe Orange gewidmet, welche sie in einem Fantasie-Kostüm umgibt. Sie erzählt, mehr noch spielt und tanzt ausdrucksstark eine köstliche Anleitung zum Essen einer Orange unter der Dusche. Es folgt die Lady in Blue (Anna G.R. Lappe), später erscheint eine Frau auf der Suche nach dem idealen Gelb (Ines Hollinger mit artistischem Kisten-Slapstick). Was ist schöner ?: Sand-, Sonnen-, Signal-, Zink-, Zitronen-Gelb, alles RAL-Varianten, die in der Aufführung ihre eigene Komik entfalten.
Doch auf der Bühne entstehen nicht nur magische Stimmungen durch Licht-Projektionen, man erlebt eine Synthese sämtlicher Sinneseindrücke. Die Farben werden durch Töne verstärkt (musikalische Komposition zwischen Techno und Symphonie: Athar Syed), die Farben verwandeln sich an den Darstellern in kuriose Objekte, genauer gesagt, unglaublich tolle Kostüme (Melina Popp), beispielsweise gelbe Kartons als Hülle, einen rot glitzernden Papageno-Umhang, mit dem Leon Zedlmayer sich ins Rot gräbt oder ein originelles Fell aus Bällen in verschiedenen Grün-Nuancen.
Erdbeerrot bedeutet Liebe
Dennis Fell-Hernandez mutiert damit zum krabbelnden Kugel-Monster, während Leon Boehme im Orion-Nebel Lila als Farbe der Veränderung von Formen erkennt, die seinen Körper in eine Bildergalerie einhüllen.
Doch die optische Verwandlung geht noch weiter, denn die Schauspieler setzen Formen in Bewegungen um, tänzerische Einlagen, begleitet wiederum von sprachlichen Assoziationsketten. Sie sensibilisieren das Publikum dafür, wie auch Farbe in der Alltagssprache Emotionen weckt, wenn etwa Erdbeerrot mit Liebe gekoppelt wird, die Bilder von Blau mit dem Begriff „blau machen“ enden oder man von Gelb zwangsläufig zum Wort Geld kommt.
DK
ZUR PRODUKTION
Theater:
Freie Bühne München
Regie: Verena Regensburger
Ausstattung: Melina Poppe
und Michael Bischoff
Nächste Vorstellungen:
8./9. November Wagenhalle
Pasinger Fabrik, 22./23.
November Volkstheater
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