Kinokritik
In „Was ist schon normal?“ verstecken sich Bankräuber unter Behinderten – Hit in Frankreich

04.09.2024 | Stand 05.09.2024, 14:41 Uhr |

Eine Gruppe von jungen Erwachsenen mit Behinderung startet mit großer Vorfreude in den Urlaub. Was sie nicht ahnen: Zwei Mitreisende gehören eigentlich nicht hierher, sondern ins Gefängnis. − Foto: Square One Entertainment, Teleschau

Wer einen Film mit geistig behinderten Menschen machen möchte, muss über ein hohes Maß an Sensibilität verfügen. Natürlich verbietet es sich, die Protagonisten mit ihren Herausforderungen vorzuführen.



Genau so wenig darf man sie in Watte packen. Häufig gehen Betroffene mit einem großartigen Humor mit ihrer Situation um, Kinowerke wie „Me too – Wer will schon normal sein?“ (2009) oder „Am achten Tag“ (1996) haben ihn wunderbar eingefangen. Selbiges gelingt auch dem französischen Schauspieler Artus (bürgerlich Victor Artus Solaro) mit seinem Regiedebüt in „Was ist schon normal?“.

Reise voll Abenteuer in den Sommerferien



Wirklich routiniert kommen Paulo (Artus) und sein Vater La Fraise (Clovis Cornillac) bei ihrem Überfall auf ein Juweliergeschäft nicht herüber. Dummerweise wurde ihr Fluchtwagen abgeschleppt, weil sie ihn auf einem Behindertenparkplatz abgestellt haben. Nun müssen sich die beiden zu Fuß in Sicherheit bringen. Die Polente ist ihnen bereits auf den Fersen. Immerhin ist es den Räubern gelungen, ihre Klamotten zu wechseln, weshalb Paulo jetzt „aussieht wie ein deutscher Tourist“.



Was Wunder, dass ihn die liebreizende Alice (Alice Belaïdi) für das letzte fehlende Mitglied ihrer Reisegruppe hält. Als Betreuerin begleitet sie geistig behinderte Menschen in die Sommerfrische. Paulo und sein Papa ergreifen die unerwartete Chance zum Ausbüxen und steigen als gehandicapter Sylvain und dessen Betreuer Orpi mit in den Bus. Im Domizil angekommen, wird Alice mit der Tatsache konfrontiert, dass der Vermieter im nächsten Jahr die Preise deutlich erhöhen muss, auch wenn die Gruppe schon seit vielen Jahren Stammgast ist. Es könnte der letzte Aufenthalt sein.

Anders, aber nicht dumm



Paulo integriert sich sehr schnell in die sympathische Gruppe von Menschen, „die ein gewisses Mehr haben“, während sein alter Herr noch eine Weile braucht, um sich zu akklimatisieren. Weil ihre Mitbewohner zwar anders, aber gewiss nicht dumm sind, fliegt die Tarnung der Ganoven schnell auf. Allerdings verspricht Arnaud (Arnaud Toupense), niemandem zu erzählen, dass Paulo überhaupt nicht behindert ist. Es wird ein magischer Sommer werden, in dem man verrückte Abenteuer teilt, Freundschaften schließt und Amor Pfeile verschießt. Aber da ist natürlich noch die Sache mit dem Überfall. Irgendwann müssen sich die Aushilfskriminellen natürlich ihrer Verantwortung stellen…

Elf Schauspieler mit geistiger Behinderung



Filmemacher Artus, Schirmherr der Paralympischen Spiele und von „Handicap International“, ist in der Rolle des Paulo respektive Sylvain zu erleben. Sein Liebeslied auf das Anderssein nimmt dem Zuschauer in Windeseile Berührungsängste.

Auch die engagierten Engel, die rund um die Uhr für ihre Schützlinge zur Verfügung stehen, werden gebührend abgefeiert. Der Regisseur lässt jedwede Sentimentalität außen vor. Dafür umschifft Artus gekonnt die Vorwürfe, die die „Darf man das?“-Fraktion auftürmen mag. Vor seiner Kamera versammeln sich elf liebenswerte Schauspieler mit geistiger Behinderung. Dazu kann es keine Alternative geben, kein Durchschnittsschauspieler könnte eine dieser Rollen ausfüllen.

„Was ist schon normal“ ist ein großer und integrer Spaß für ein buntes Publikum, der in Frankreich bereits zehn Millionen Menschen in die Kinos gelockt hat.
André Wesche


Frankreich 2024, von Artus, mit Artus, Clovis Cornillac, Alice Belaïdi, 99 Min., ab 6 Jahren

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