Im Geschwindigkeitsrausch

Das GKO gestaltet einen mitreißenden Mendelssohn-Abend im Turm Baur

29.07.2022 | Stand 22.09.2023, 20:32 Uhr

Spannende Interaktion: Geigerin Rosanne Philippens und Dirigent Ariel Zuckermann verstehen sich musikalische bestens. Foto: Schaffer

Von Jesko Schulze-Reimpell

Ingolstadt – Was für eine wundervolle Idee: Ariel Zuckermann eröffnet das Open-Air-Konzert des Georgischen Kammerorchesters mit dem Nocturne aus Felix Mendelssohn Bartholdys „Sommernachtstraum“ und gibt dem Abend damit sogleich einen weihevollen Einstieg. Während die Sonne untergeht, erinnern die weichen Horntöne an Waldszenen, rauschende Bäume, Vögel. Nichts könnte besser passen. Während die Bläser und die Celli noch spielen, betreten leise die übrigen Orchestermusiker die Bühne im Turm Baur und ergänzen die farbigen Klänge mit soften Streichersound: eine Einladung, sich in die Natur zu begeben. Die Sonne geht noch etwas weiter unter und plötzlich ändert sich die Szenerie. Es wird Nacht, die Elfen tänzeln durch das Unterholz, ein Esel schreit, es wird lauthals gefeiert. Denn das Orchester spielt inzwischen das berühmte Scherzo aus dem Sommernachtstraum, eigentlich der erste Satz des Werks.

Keine Frage: Solche Musik passt bestens in eine laue Sommernacht und ist ideal für ein Open-Air-Konzert. Zuckermann hat diesmal das gesamte Programm gänzlich auf Werke von Mendelssohn ausgerichtet. Mit gutem Grund. Denn es existiert kaum Musik, die optimistischer, unterhaltsamer, gefühlvoller und mitreißender ist. Und dabei leicht zugänglich.

Im Zentrum steht das Violinkonzert in e-Moll des Frühromantikers, Solistin ist die Niederländerin Rosanne Philippens. Die Geigerin verblüfft vor allem durch ihr Temperament, durch die schnellen Stimmungswechsel, die plastische Ausformung musikalischer Gefühlsregungen. Bis zum Beginn des zweiten Themas im Kopfsatz agiert sie virtuos, feurig, fast ein wenig unromantisch. Dann aber, beim langsamen Thema, bringt sie ihre Stradivari zum Schwelgen, verausgabt sich förmlich vor emotionalem Überschwang. So ist ihr Geigenspiel ein fast schon reißerischer Parforceritt, bis zum eilig gefetzten Schlusssatz. Besser, ergreifender kann man das Konzert kaum spielen.

Nacht der Pause lässt Ariel Zuckermann ein weiteres Meisterwerk folgen: die „Italienische Sinfonie“, die natürlich auch bestens in die warme, sommerliche Atmosphäre passt. Das GKO musiziert unter seiner Leitung mit höchster Präzision, man spürt wie sehr den Musikern diese Musik liegt, wie sie sie lieben. Zuckermann lässt, zumal in den beiden langsamen, etwas melancholischen Mittelsätzen, das Orchester in weiten atmenden Bögen agieren. Vor allem aber fällt seine Reaktionsgeschwindigkeit auf, die plötzlichen, aufschreckenden Akzente, wo gerade noch melodiöser Narkotismus herrschte. Aber das alles ist nichts gegen das Presto am Ende. Hier legt Zuckermann ein solch unfassbar schnelles Tempo hin, dass man fast schon die Musiker bemitleiden muss. Aber die ziehen begeistert mit in diesem rasenden, trunken machenden philharmonischen Sog. Am Ende kennt die Begeisterung des Publikums keine Grenze: Bravorufe, Pfiffe schallen durch den Turm – und treffen einen eher überraschten Ariel Zuckermann, der keine Zugabe vorbereitet hatte. Aber das Publikum will ohnehin am liebsten diesen Geschwindigkeitsrausch noch einmal erleben. Und Zuckermann gibt nach, wiederholt den Schlusssatz noch einmal – aber etwas anders: nämlich noch etwas schneller. Was für ein Abend.

DK