Ingolstadt
Hohe Energiedichte

Flamenco-Festival im Kulturzentrum neun: Vanesa Aibars Stück „Sierpe“ zeigt Tanzkunst fernab von Folklore-Kitsch

25.09.2022 | Stand 22.09.2023, 5:19 Uhr

Die Macht der Weiblichkeit: Vanesa Aibar. Foto: Nassal

Von Katrin Poese

Ingolstadt – Welches Klischee von einer Flamencotänzerin haben Deutsche im Kopf? Vermutlich etwas mit einem üppigen Rüschenrock, einem strengen Haarknoten, roter Rose, Fächer, Fransentuch. Ist es Flamenco, wenn man all das weglässt? Und wie! Die spanische Tänzerin und Choreographin Vanesa Aibar ist am Samstagabend mit ihrem Bühnenprogramm ins Kulturzentrum neun gekommen, um die Klischees aus den Köpfen zu fegen. Ihr Programm, das Tanztheaterstück „Sierpe“ – „Schlange“ –, mischt Flamenco mit zeitgenössischem Tanz und Theaterelementen und kommt dabei komplett ohne Kitsch aus.

Stattdessen kochen Vanesa Aibar, Jahrgang 1983, und ihr Team den Flamenco auf seine Essenz ein. Dieses Konzentrat verabreichen sie dem Publikum: Es ist bitter und süß, intensiv und von hoher Energiedichte, aber kein bisschen klebrig. Alles wirkt, als hätte Vanesa Aibar sich gemeinsam mit ihrem Regie-Kollegen Francisco Sarabia Marchirán die Elemente des Flamenco angeschaut und entschieden, wie man sie am besten ins Extrem steigern kann. Zum Beispiel den Tanz selbst: Die rasanten Drehungen, das schnelle Stampfen, die weit ausgreifenden Posen – all das vollführt die unglaublich athletische Aibar noch zackiger, noch gewandter, noch dramatischer. Die titelgebende Schlange steckt in ihren Bewegungen. So, wie eine Schlange mit erschreckender Geschwindigkeit zum Biss vorstößt, so tanzt Vanesa Aibar.

Die Steigerung ins Extreme gilt auch für die Kostüme, ganz ohne Rüschen und Fransen: Der einzige weit ausladende Rock in diesem Tanztheater ist der von einem Kettenhemd-Kleid, transparent wie ein Maschendrahtzaun. Durch die schwarzen Glieder sieht man Aibars helle Arme, sie windet sich theatralisch unter der Last. Um die Macht der Weiblichkeit geht es im Stück, verrät der Begleittext: Löst sie sich hier aus ihren Ketten? Als Aibar gleich darauf nur noch in Sport-Top und Leggings auf der Bühne steht, jeder Muskel sichtbar, wirkt sie wie eine Kriegerin. Die Dramatik betont auch ein grotesk großer Schlapphut, den Vanesa Aibar später zum knallroten Hemdkleid trägt und der sie bis zu den Ellbogen verdeckt. Das Licht (Carmen Mori Prendes) spielt die Geschichte mit: Blau und neblig ist Aibars Befreiung aus dem Kettenhemd, rotgolden die Kriegerinnenszene, das Wirbeln im roten Kleid klar ausgeleuchtet.

Die Musik in „Sierpe“ ist ebenfalls ein Superlativ. Gitarrist José Torres, Sängerin Rocío Muñoz und Sänger José Javier Guerrero sind unglaublich präsent – auch dank des Tons von Manuel Prieto Duran – und tun genau das, was den Flamenco so hypnotisch macht: Ein paar Saiten und rhythmisches Klicken mit Kieselsteinen sind schon Musik, Klopfen auf dem Gitarrenkorpus und die vor Emotionen strotzenden Stimmen sind schon eine Geschichte, auch wenn man kein Spanisch versteht.

Dabei zieht sich das Trio nicht in den Orchestergraben zurück, sondern ist Teil des Stückes. Noch nie hat jemand so dramatisch einen Zopf geflochten wie Sänger José Javier Guerrero mit Vanesa Aibars Haar. Der Gitarrist muss sogar akrobatisch werden: Während er seine vertrackte Musik spielt, demonstriert Aibar die verführerische Seite des Weiblichen, windet sich geschmeidig zwischen José Javier Guerrero und seine Gitarre, während er immer weiterzupft, greift ihm passend zum Rhythmus ins Griffbrett und zieht plötzlich – Überraschungseffekt gelungen – mit einem Ruck ihr langes Haar unter die Saiten, die nun nur noch gedämpft erklingen.

Wie gesagt, dieses Flamenco-Konzentrat ist intensiv und manchmal erzeugt es einen Schreckmoment, wie wenn ein scharfer Schnaps ohne Vorwarnung Tränen in die Augen treibt. Verstehen kann man diese Essenz als Mitteleuropäerin vielleicht nicht vollständig, aber die starken Bilder dieses Tanztheaters können einen nicht unbeeindruckt lassen. Und wie es um die Macht des Weiblichen bestellt ist, daran besteht nach dem Anblick Vanesa Aibars kein Zweifel mehr.

DK