Geschichten in einer lauen Sommernacht

Auftakt des Ingolstädter Lesefestivals mit der Literarischen Nacht auf dem Dachgarten des Kap94

19.06.2022 | Stand 22.09.2023, 22:07 Uhr

Auf dem Dachgarten des Kap94 wurden die Ingolstädter Literaturtage eröffnet. Foto: Luff

Von Robert Luff

Ingolstadt – Es war ein fulminanter Auftakt der 29. Ingolstädter Literaturtage: Insgesamt sieben Autorinnen und Autoren aus der Region sowie die beiden Preisträger beim Schanzer Literaturwettbewerb für Schülerinnen und Schüler lasen aus ihren Gedichten und Geschichten, Romanen und Reflexionen – und dies in bezaubernder Open-Air-Atmosphäre und begleitet von der Ingolstädter Band Kapuze um Sängerin Magdalena Utzt und Christian Mayer am Piano. Obgleich dies die XXS-Formation der Band darstellt, waren ihre selbst geschriebenen Balladen Extraklasse und konkurrierten mit ihren tiefgründigen melancholischen Texten mit so manchem Gedicht auf der Lesebühne.

Durch das Programm, in dem sich vier Leseblöcke mit der Livemusik abwechselten, führten gewohnt launig und humorvoll-ironisch Jens Rohrer und Michael von Benkel, die beide auch aus ihren Werken lasen. Und gleich zu Beginn überraschte Susanne Feiner das Publikum mit der originellen allegorischen Geschichte „Als mich die große Freiheit anrief“. Dabei geht es um eine Frau in der Lebensmitte, die nach Studium, beruflichem und familiärem Stress jetzt endlich ein bisschen Zeit hätte und auf die große Freiheit wartet, die dann tatsächlich auch bei ihr anruft. Freilich entpuppt sich diese als Sklavin des zügellosen Kapitalismus und bedarf selbst der Hilfe.

Von einer ungewöhnlichen Zeitreise dreier Studenten in die Zukunft via Computersimulation handelt die Kurzgeschichte des Erstplatzierten der höchsten Altersgruppe im Schanzer Schreibwettbewerb Florian Mändl. Sie mündet in der Erkenntnis, dass wir unsere Zukunft durch unsere Einstellungen und unser Handeln durchaus positiv gestalten können. Einen lyrischen Abschluss fand der erste Leseblock durch Andreas Wieland-Freunds meist lakonisch knappe Gedichte, die Titel wie „Rostiges Rätsel“ oder „Diskurs mit der Donau“ trugen und immer wieder zu einer überraschenden Pointe oder kritischen Erkenntnis fanden.

Im zweiten Block lasen Jens Rohrer und Lukas Endtner. Rohrer bot zwei herrlich satirische Ausschnitte aus seinem Roman „Von der Rettung der Welt und kleinen Pelztierchen“. Im Mittelpunkt steht dabei der langweilige Alltagsheld Friedhelm, der den perfiden chinesischen Plan entlarvt, mittels elektromagnetischer Wellen die Europäer langsam in Chinesen zu verwandeln, und so die Welt rettet. Lukas Endtner las als zweiter Gewinner der Schülerwettbewerbs aus seiner Erzählung „Zeit zu reisen“ und nahm dabei als Geschichte in der Geschichte auch den Schanzer Schreibwettbewerb selbst aufs Korn.

Im dritten Block gaben sich dann Cinzia Tanzella und Beatrix ChaBé Müller die Ehre, wobei Letztere leider nicht persönlich anwesend sein konnte und ihre vier originellen Kurzgeschichten über das Chaos von Brunhilde Deutscher vorlesen ließ. Cinzia Tanzella hingegen war präsent – und wie: In ihrer skurril-hintergründigen Geschichte „Balkonien und die Nachbarn“ schilderte sie die hilflos-rührenden Fluchtversuche einer Frau vor ihren nervigen Nachbarn und aus ihrem tristen Alltag auf zwei Quadratmeter Freiheit, die ihr Balkon verheißt. Dass sich alles nach einer Überschwemmungskatastrophe doch noch zum Guten wendet, stellte die Pointe der Erzählung dar.

Schließlich traten im letzten Leseblock noch Susanna Rasch und Michael von Benkel auf. Während Rasch eine „Kleine Kastanien-Auszeit“ bot, bei der sich eine gestresste Familienmutter vor Mann, Kind und Haushalt auf eine seit ihrer Kindheit vergessene Bastel-Insel flüchtet, las von Benkel die beiden kurzen, aber bitterbösen Geschichten „Kirchengeschlecht“ und „Flüchtlingskrise“ vor. Dabei nahm er gewohnt bissig und nicht ohne Wortspiele die fehlende Gendergerechtigkeit der katholischen Kirche aufs Korn.

Die 29. Literarische Nacht hielt, was sie versprochen hatte: Sie eröffnete den Zuhörern einen Einblick in das literarische Schaffen der Stadt und der Region und bot zugleich einen kurzweiligen Wechsel unterschiedlicher literarischer Genres und hochklassiger Musik. In Präsenz und im Freien, bei bestem Wetter und mit hochwertigen Texten – was will man mehr?

DK