Geniale Stilverschmelzungen

Masha Dimitrieva gestaltet einen Klavierabend mit zeitgenössischen Komponisten aus der Region

21.11.2022 | Stand 19.09.2023, 3:51 Uhr

Virtuosität, Poesie und Tiefsinn: Masha Dimitrieva. Foto: Haberl

Von Heike Haberl

Gaimersheim – Wie kreativ, wie findig es der wunderbaren Pianistin Masha Dimitrieva gelingt, immer wieder neue, ungewöhnliche Konzertformate zu kreieren, ist höchst erstaunlich. Seit 2014 gibt sie alljährlich einen Klavierabend im Rathaussaal ihres Wohnorts Gaimersheim. Diesmal war er fünf zeitgenössischen „Musikkosmopolit:innen“ gewidmet, mit denen die russisch-deutsche Künstlerin eine – teils jahrzehntelange – intensive musikalische Freundschaft verbindet. Alle stammen aus unterschiedlichen Ländern und haben in Bayern ihre zweite Heimat gefunden. Weltbürger, die den Tönen nicht nur voll offener Neugier begegnen, sondern in ihrer Klangsprache bisweilen sogar mehrere, zunächst konträr erscheinende Stile vereinen.

Fantasievolle Kurzepisoden

Beim Jüngsten im Bunde handelt es sich um den Rumänen Dan Turcanu, der nun in Eching lebt und dem jeweiligen Charakter seiner charmant-witzigen „Préludes“ (sogenannte „Musical Dumplings“, also „musikalische Knödel“) kleine Erzählungen zur Seite stellt. Die thematische Spannweite reicht dabei von einem alten Mann, der in mehreren Anläufen versucht, mit Geschichten seine Enkel ins Bett zu bringen, über ein chinesisches Märchen zur Anmut tänzerischer Balance oder die bildhaft-schweren Umstände einer armenischen Hochzeit bis hin zu einer Motte, die eine Glühbirne umkreist und schließlich an ihr verbrennt. Nicht nur, dass Turcanu typische volkstümliche Elemente in seine Werke implantiert – genauso erweist er sich als narrativ gestaltender Beobachter der konzentrierten, gehalt- und fantasievoll geschilderten Kurzepisoden.

Ebenfalls mit „Préludes“ betitelt sind die Sätze der in England geborenen Susan Oswell, die zunächst als Tänzerin und Choreographin wirkte, bevor sie bei ihrem späteren Mann, dem kürzlich verstorbenen Franz Hummel aus Altmannstein, Komposition studierte. Im freien Gedankenfluss lässt die an diesem Abend anwesende Komponistin daraus ihre Seele sprechen: Der wellenartige Duktus entfaltet sich in organischer Natürlichkeit, in empfindsamer, melancholischer Wehmut. Masha Dimitrieva entdeckt darin sogar slawische Farben, Anklänge an Alexander Skrjabin.

Ihre zweite Klaviersonate hat die Amerikanerin Gloria Coates zum frühen Tod des türkischen Pianisten Vedat Kosal im Jahr 2001 komponiert. Dazu verwendete sie eine ägyptische Tonleiter und verlangsamte sie auf ein Trauertempo. Hier taucht Dimitrieva, die das Werk damals auch uraufführte, ein in einen regelrechten „Klangozean“ zwischen zartestem Pianissimo und mehrfachem Forte. Ein riesiges dynamisches Spektrum, pochend, hämmernd, experimentierend mit Klängen, Clustern und Obertönen, in das sich immer wieder durch Pedaleinsatz verwischte Zitate von Liszt und Chopin (Kosals Lieblingskomponisten) mischen. Große Emotionen, getragen von Tragik und Schmerz.

Nur selten widmet der gebürtige Georgier Igor Loboda, Mitglied des Georgischen Kammerorchesters und als „Teufelsgeiger von Ingolstadt“ bekannt, seine Stücke einem bestimmten Menschen. Aber offensichtlich hat ihn Masha Dimitrieva so tief im Innern berührt, dass er bei ihr in Form der Fantasie „Latino Sempre“ eine Ausnahme machte. Mit dieser „Gefühls-Vinaigrette“ schrieb er seiner Duopartnerin (die beiden haben vor wenigen Monaten ihre erste gemeinsame CD veröffentlicht) ein expressiv-elegantes Porträt voll melodischer Geschmeidigkeit auf den Leib, in dem er gleichzeitig energiegeladene und lebensfrohe musikalische Anspielungen auf das schwelgerische georgische Lied „Suliko“ und den gutgelaunten Song „The Girl from Ipanema“ verarbeitete. Zu den lateinamerikanischen Rhythmen, aber auch zum rauschenden Fest „Tblisoba“ oder zur schroff zugespitzten, zerklüfteten Corona-Etüde kann die renommierte Pianistin die schillernden Seiten ihres Temperaments gänzlich ausleben.

Eine absolute Ausnahmeerscheinung innerhalb der Musikwelt war sicherlich der 2013 verstorbene Nomade und Weltreisende Gordon Sherwood: Seine so zuvor noch nie gehörten Klangsynthesen und genialen Stilverschmelzungen schlagen sich insbesondere in den „Twelve Variations on a Blues Theme“ oder im „Boogie Canonicus“ nieder, worin der freigeistige Überlebenskünstler die beiden eigentlich unvereinbaren Komponenten Boogie und Polyphonie im swingenden Jazz-Style miteinander verbindet. Und zwar so originell und raffiniert, dass man seine unverkennbare eigene musikalische Handschrift immer heraushört. Masha Dimitrieva spielt das brillant, erfrischend und wandlungsfähig.

Zweisprachige Moderation

Die vielfältigen Werke des Programms mit all ihrer individuellen Musiksprache, Stilistik und Melodik durchdringt sie hervorragend, besticht durch Aufgewecktheit, Authentizität und Wahrhaftigkeit. Ihrem pianistischen Können, ihrem interpretatorischen Einfühlungsvermögen scheinen keine Grenzen gesetzt. Denn sie verfügt über die gesamte Nuancierungspalette der Ausdrucksmöglichkeiten: Virtuosität, Poesie und Tiefsinn. Dazu trägt auch die ebenso lebendige wie fachkundige zweisprachige Moderation der Musikerin auf Deutsch und Russisch bei.

Als fulminante Zugabe der in rasender Geschwindigkeit dahinschwirrende „Bumble Bee Boogie“ von Jack Fina. Ein mutiger, experimentierfreudiger und rundum geglückter Abend. Unbedingt mehr davon!

DK