Empört Euch!

Furioser Spielzeitauftakt am Stadttheater Ingolstadt mit Yael Ronens Diskurs-Musical „Slippery Slope“

03.10.2022 | Stand 22.09.2023, 5:01 Uhr

Was ist wahr? Stanka (Judith Nebel, rechts) wittert bei Sky (Luiza Monteiro) eine Story. Foto: Malinowski

Von Anja Witzke

Ingolstadt – „Glaub an mich!“ singen sie am Ende. Verzweifelt. Eindringlich. Beschwörend. Mit Inbrunst. Alle drängeln sich nach vorn. Ins Rampenlicht. Mit Ellenbogeneinsatz. Ohne Rücksicht. „Glaub an mich!“, bittet Gustav. „Nein, glaub an mich!“, fleht Sky. Und Klara. Und Stanka. Und Kahn. Jeder will die Bühne für sich – um seine Geschichte zu erzählen. Aber die meisten Geschichten, das lernen wir an diesem Abend, sind nicht Entweder-Oder. Schwarz-Weiß. Alles hat – je nach Perspektive – mehrere Wahrheiten. Wir befinden uns in einem ständigen Kampf um Deutungshoheit, um Sympathien, um Macht.

„Slippery Slope“ heißt das furiose Stück der israelischen Regisseurin Yael Ronen, die darin akute gesellschaftliche Debatten um Cancelculture, kulturelle Aneignung, Machtmissbrauch und #MeToo in eine so intelligente wie amüsante und musikalische mitreißende Revue verpackt. Beim Berliner Theatertreffen war das Stück der Publikumshit. Am Samstagabend eröffnete es unter der Regie der Autorin die Spielzeit im Großen Haus des Stadttheaters. Und wurde nach 100 Minuten mit begeistertem Applaus gefeiert.

„Slippery Slope“ heißt übersetzt etwa heikle Angelegenheit oder auch rutschiger Abhang. Und deshalb hat Ausstatterin Katrin Busching eine schiefe Ebene ins Zentrum des Großen Hauses gebaut. Sie führt zu einem runden Podest, auf der alle Protagonisten ihre Bühne finden. Ansonsten ist der Raum nahezu leer und bildet so eine perfekte Projektionsfläche für die Videokunst von Stefano Di Buduo, dessen fantastische Bildästhetik sowohl die emotionalen Befindlichkeiten der Akteure als auch ihre Narrative bebildert. Wenn Gustav von seinem einstigen Ruhm vor „dieser Sache“ erzählt, sind diese Bildwelten inspiriert von Graphic Novels oder Film Noir, dazu klimpert ein Klavier. Wenn Sky mit ihrem neuen, hippen Produzenten Shantez zum Live-Fortnite-Music-Event bittet, gibt es blaue, humanoide Avatare und jede Menge digitales Blingbling.

„Diese Sache“ ist die: Lange Jahre hat der schwedische Musiker Gustav mit diversen Ethno-Schnulzen die Hallen gefüllt. Bis er mit einer seiner Backgroundsängerinnen, einer jungen Roma-Frau, eine Affäre beginnt. Die startet wenig später ihre eigene Karriere und klagt ihn öffentlich an: Missbrauch, Ausbeutung, Manipulation. Zwar kann Gustavs Frau als Chefredakteurin einer wichtigen Zeitung einen Artikel verhindern, aber am Ende kommt natürlich doch alles raus. Auch wenn jeder eine andere Geschichte erzählt. Und wie sie das tun, das ist einfach wahnsinnig komisch. Eine Sternstunde für Enrico Spohn, der seinen desolat-neurotischen Gustav hinreißend erbarmungswürdig verkörpert. Allein die entlarvenden Sprachnachrichten, die er auf Skys Handy hinterlässt! Luiza Monteiro ist eine wunderbare Sky: forsch und zart, arglos und willensstark und dabei extrem manipulierbar. Andrea Frohn ist als Chefredakteurin mit politischen Ambitionen wie als Ehefrau kühl, berechnend und undurchschaubar. Judith Nebel brilliert in einer Doppelrolle als investigative Powerfrau und unbedarfte Pornokünstlerin. Die eine bringt eine Enthüllungsstory heraus, die andere verklagt sie. Und Marc Simon Delfs stellt erneut sein herrlich komisches Potenzial als lässiger Musikproduzent und perfider Anwalt unter Beweis. Aber sie spielen nicht nur mit Lust mit den Klischees, sie singen dazu umwerfend die Songs, die Shlomi Shaban, Singer-Songwriter aus Tel Aviv, für die Figuren erdacht hat, die durch alle Musikstile mäandern, Jazz-, Blues- und Pop kombinieren, Echos aus Musicals vergangener Jahrzehnte anklingen lassen.

Wer sind wir? Wer wollen wir sein? Wie nutzen wir Soziale Netzwerke? Wer profitiert von der Skandalisierung? Mit perfekt austariertem Tempo, viel Spielwitz und einem großartigen Ensemble bringt Regisseurin Yael Ronen ihr schwarzhumoriges Stück auf die Bühne. Ein Stück, das blitzgescheit Entertainment mit Debattenkultur verbindet, von der Komplexität der Welt erzählt und das Publikum mit vielen Fragen zurücklässt – nach der Wahrheit, immer neuen Aufregern und unserer eigenen Rolle in diesem System. Ein vielversprechender Spielzeitauftakt!

DK




ZUR PRODUKTION

Theater:

Großes Haus Ingolstadt

Regie:

Yael Ronen

Musikalische Leitung:

Yaniv Fridel, Ofer Shabi

Vorstellungen:

bis 30. Oktober

Kartentelefon:

(0841) 30547200