„Eine Kulturkrise sehe ich nicht“

Nach Ende der Corona-Maßnahmen kommt das Publikum nur zögerlich zurück in die Theater und die Konzertsäle – bisher kein Grund zur Sorge, findet Claudia Schmitz vom Deutschen Bühnenverein. <?ZP?><?ZP?>

25.08.2022 | Stand 22.09.2023, 6:25 Uhr

Lückenhafte Publikumszone: Selbst bei den populären Klassik-Open-Airs der Audi-Sommerkonzerten im Klenzepark in diesem Jahr waren nicht alle Plätze belegt. Foto: Audi AG

Köln – Den klassischen Kultureinrichtungen geht es nicht gut. Auch nachdem die Corona-Maßnahmen im Frühjahr dieses Jahres weitestgehend weggefallen sind, kam das Publikum nur sehr zögerlich zurück. Viele Veranstalter und Intendanten sind alarmiert. Denn der Rückgang beim Publikum beschleunigt einen Trend, den es auch von der Corona-Krise schon gegeben hat. Claudia Schmitz, Geschäftsführerin des Deutschen Bühnenvereins, verweist allerdings darauf, dass es zu früh ist, von einem einheitlichen, bundesweiten Trend zu sprechen.

Frau Schmitz, die Corona-Krise wird allmählich immer marginaler, aber das Publikum findet dennoch nur schwer in die Theater- und Konzertsäle zurück. Das ist ein Eindruck, der sich am Ende der letzten Spielzeit verdichtet hat. Befinden wir uns in einer Kulturkrise?
Claudia Schmitz: Wir befinden uns vor allem in mehreren uns alle sehr fordernden gesellschaftlichen Krisen. Eine Kulturkrise sehe ich nicht. Die Rückmeldungen, die wir aus den Theatern und Konzerthäusern bekommen sind unterschiedlich. Es gibt Häuser, die melden, dass es bei ihnen wieder so läuft wie vor der Corona-Pandemie, andere sind noch nicht so weit. Bei Festivals gibt es teilweise sehr gute Resonanz, aktuell etwa bei der Ruhrtriennale oder auch beim Heidelberger Stückemarkt. Belastbare aktuelle Zahlen existieren noch nicht.

Dennoch gibt es doch einige negative Trends?
Schmitz: Ein Trend scheint zu sein, dass die älteren Besucher nicht in dem Maße wieder zurückkommen wie vor Corona. Ein zweiter Trend ist, dass sich das Kaufverhalten verändert hat. Das Abonnement, das seit Jahren rückläufig ist, geht weiter zurück. Die Zuschauer entscheiden sich eher kurzfristig zum Besuch kultureller Veranstaltungen. Das verwundert nicht, wenn man bedenkt wie viele Veranstaltungen in der zweiten Hälfte der vergangenen Spielzeit kurzfristig abgesagt oder verlegt werden mussten. Auch für die Zuschauerinnen und Zuschauer ist es eine mutige Entscheidung, jetzt eine Karte für den Oktober zu kaufen und davon auszugehen, dass man dann gesund ist und einen das Virus nicht erwischt.

Es scheint doch aber so zu sein, dass man von den großen Festivals, etwa in Bayreuth oder Salzburg deutlich weniger Klagelieder hört. Gibt es einen Unterschied zwischen der Flächenkultur und den kulturellen Leuchttürmen in den großen Städten?
Schmitz: Das Theater Regensburg zum Beispiel hat uns berichtet, dass sie eine super Spielzeit hatten. Es scheint große regionale Unterschiede zu geben. Das hat vielleicht mit dem Angebot zu tun oder einer unterschiedlichen Zuschauerstruktur. Ich würde im Moment nicht so viel hineininterpretieren, die Datenbasis ist noch nicht ausreichend dafür.

Einen anhaltenden Trend, der durch die Corona-Krise allenfalls noch verstärkt wurde, gibt es allerdings schon seit Längerem: Besonders das Klassik-Publikum ist inzwischen deutlich überaltert. In den frühen 70er Jahren waren die durchschnittlichen Klassik-Besucher jünger als der Bevölkerungsdurchschnitt, nämlich 37 Jahre alt. Inzwischen liegt der Durchschnitt zwischen 55 und 60 Jahren. Nicht viel anders sieht es beim Schauspiel und der Oper aus. Warum ist es so schwer, junge Leute zu erreichen?

Schmitz: Ich würde nicht von einem grundsätzlichen Trend zur Überalterung des Publikums sprechen. Ich plädiere dafür, genau hinzuschauen. Wir haben ein sehr erfolgreiches Kinder- und Jugendtheater. Meine Eindrücke sind anders, als die von Ihnen beschriebenen. Wir haben Bürgerbühnen und Stadtkollektive, Festivals, bei denen viel junges Publikum zu finden ist. Wir haben gerade über das zögerlich zurückkehrende ältere Publikum gesprochen. Wenn man das analysiert, hat diese Zurückhaltung höchstwahrscheinlich mit der Angst vor einer Ansteckung zu tun. Es sind zudem gerade die älteren Besucher, die besonders stark die Abonnements nutzen. Mein Eindruck ist, dass gerade die jungen Zuschauerinnen und Zuschauer besonders stark in die Säle zurückkehren. Die Schulvorstellungen sind gut besucht, womit ein elementarer Beitrag zum Bildungsauftrag geleistet wird.

Haben Sie das Gefühl, dass die Kulturinstitutionen genügend Relevanz zeigen, dass sie die wichtigen Themen unserer Zeit, von Corona bis zum Ukraine-Krieg, genügend stark in den Spielplänen berücksichtigen?
Schmitz: Ja, den Eindruck habe ich. In vielen Schauspielbühnen stehen zahlreiche Stücke der Gegenwartsliteratur auf den Spielplänen. Das ist ein Trend, den wir auch schon in der abgelaufenen Spielzeit 2020/21 konstatieren konnten. Gerade auch international ausgerichtete Autorinnen und Autoren werden verstärkt gespielt. In Bürgerbühnen und Stadtkollektiven werden Themen gemeinsam erarbeitet. Das Theater Braunschweig etwa wird Richard Wagners „Ring“ spartenübergreifend produzieren – auch das ist ein guter Ansatz, Publikum einmal nicht nur spartenbezogen anzusprechen.

Kennen Sie weitere interessante Ansätze in den Theatern?

Schmitz: Ein Ansatz ist die Öffnung der Häuser – inhaltlich aber auch räumlich, etwa Foyers, die auch zugänglich sind, wenn gerade keine Vorstellung stattfindet. Oder ein digitales Angebot, das nicht nur analoge Aufführungen dokumentiert und reproduziert, sondern eine eigene Kunstform ist.

Was die digitalen Formate begrifft: Gibt es nicht auch Leute, die auf diese Formate ausweichen und dadurch die eine oder andere Kulturveranstaltung nicht mehr besuchen?
Schmitz: Da sollten wir differenzieren. Wenn ich von Digitalität als Kunstform spreche, dann meine ich nicht, dass eine analoge Inszenierung ins Netz gestellt wird. Ich meine hybride oder rein digitale Formate. Das ist ein Ansatz, der die Bühnen programmatisch ergänzen kann. Dennoch glaube ich fest daran, dass Theater in erster Linie Orte der Begegnung sind und des Live-Diskurses.

Die Ukraine führt gerade zu einer Gas-Krise. In Kulturkreisen wird befürchtet, dass diese Krise erneut auf dem Rücken der Kulturschaffenden ausgetragen wird. Dass ganz konkret Kultursäle geschlossen werden, weil es zu wenig Gas gibt.
Schmitz: Wir sind im regen Austausch auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Wir haben gerade zusammen mit der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft eine Checkliste zur Einsparung von Energie und mit Handlungsoptionen zur Umsetzung des Notfallplans Gas an die Theater und Konzerthäuser verschickt. Wir fordern die Bühnenleitungen auf, sich jetzt auf die verschiedenen Szenarien, die in diesem Winter auf uns zukommen können, vorzubereiten. Die Bühnen werden wegen der Energiekrise nicht geschlossen, sie können aber möglicherweise nicht mehr vollständig energetisch versorgt werden und daher Veranstaltungen nicht durchführen. Wir arbeiten daran, dass es soweit nicht kommt. Das Thema Nachhaltigkeit beschäftigt die Bühnen seit vielen Jahren. Wir plädieren daher dafür jetzt möglichst nachhaltige Maßnahmen in Richtung Klimaneutralität zu ergreifen.

Wobei natürlich die Argumente kommen werden, dass es wichtiger ist, die privaten Wohnungen zu heizen als öffentliche Räume wie etwa ein Theater.
Schmitz: Ich denke nicht, dass es darum in einer grundsätzlichen Debatte gehen wird. Ansprechpartner für die Versorgung vor Ort sind die regionalen Energiedienstleister. Mit diesen müssen die Bühnen die möglichen Szenarien besprechen oder mit dem Träger, wenn die Versorgung über diesen läuft. Wir spielen nicht nur Vorstellungen, wir lagern auch hohe Werte des öffentlichen Interesses – Musikinstrumente, technische Geräte –, die erhalten werden müssen. Eine komplette Einstellung der Versorgung hätte fatale Folgen.

Bereits seit Längerem gibt es eine Klimadiskussion in den Theatern und Konzerthäusern. So verzichten Orchester beispielsweise teilweise auf Flugreisen. Wie beurteilen Sie diesen Trend?
Schmitz: Das ist nicht nur eine Diskussion, sondern längst eine Bewegung. Viele Häuser haben bereits eine Klimabilanz erstellt oder ein Energie-Audit. Diese Häuser wissen, was sie verbrauchen und wo sie mit Maßnahmen wirksam eingreifen können. Ich bin fest davon überzeugt, dass hier noch viel getan werden muss, um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen. Die Gebäude sind zum Teil sehr alt, es gibt Sanierungsstaus. Erst wenn die Häuser saniert sind, können sie die Vorgaben erfüllen: Es geht nicht nur um kurzfristige Maßnahmen für diesen Winter.

Fürchten Sie in der derzeitigen Krisensituation, dass eine zusätzliche Sparwelle auf die Theater und die Konzerthäuser zukommt?
Schmitz: Viele Kommunen sind in einer sehr schwierigen Situation. Die Kulturausgaben sind auf der anderen Seite viel zu gering, als dass diese Einsparungen die Krisensituation auflösen würden. Ich bin zudem der Meinung, dass die Pandemie gezeigt hat, wie wichtig Kultur in Krisensituationen für den Zusammenhalt der Gesellschaft ist. Gerade jetzt brauchen wir die Theater und Konzerthäuser als Ort der gemeinsamen Reflexion und der Intervention.

DK



Das Interview führte

Jesko Schulze-Reimpell.


ZUR PERSON

Claudia Schmitz, 1970 geboren, hat an der Universität Trier Rechtswissenschaften studiert. Seit 2022 ist sie Geschäftsführende Direktorin des Deutschen Bühnenvereins. Davor arbeitete sie u.a. als Kaufmännische Geschäftsführerin am Düsseldorfer Schauspielhaus.