Die Kunst, zwischen den Zeilen zu lesen

Rückblick auf den Rock der DDR: Die Band Karussell gibt ein Konzert zum Tag der Deutschen Einheit im Kulturzentrum neun

29.09.2022 | Stand 22.09.2023, 5:09 Uhr

„Als Musiker finde ich mich heute in einer harten Musikindustrie wieder.“ Wolf-Rüdiger Raschke (links) und seine Band Karussell gastiert am Vorabend zum Tag der Deutschen Einheit im Kulturzentrum neun in Ingolstadt. Foto: Marc Opre

Ingolstadt – In den 70er Jahren kannte jeder in der DDR die Leipziger Rockband Karussell. Das Standardwerk „Rockszene DDR – Aspekte einer Massenkultur im Sozialismus“ attestierte bereits 1983 ihren Songs den Status von „Welthits, die keine werden durften, weil sich ihr Land von der Welt abgeriegelt hat“. Nun ist Karussell-Mitbegründer Wolf-Rüdiger Raschke anlässlich eines Festakts zum Tag der Deutschen Einheit in Ingolstadt zu Gast. An dessen Vorabend, also am Sonntag, 2. Oktober, wird er um 20 Uhr im Kulturzentrum Halle neun den BR-Moderator Achim Bogdan zum Livegespräch auf der dortigen Bühne treffen, anschließend gibt er mit seinen Kollegen von Karussell ein Konzert. Die Veranstaltung ist öffentlich und kostenfrei. Im Vorfeld stand Raschke für ein Interview zur Verfügung.

Herr Raschke, man bekam in der ehemaligen DDR ja nur mit Erlaubnis den Status eines Profimusikers, keine Band durfte ohne Erlaubnis hauptberuflich spielen, Konzerte wurden kontrolliert, Texte nicht selten zensiert. Was musste man tun, wie verhielt man sich am besten, um als Musiker zu überleben?
Wolf-Rüdiger Raschke: Den Status eines Profimusikers erhielt man in der damaligen DDR nur mit dem Nachweis eines abgeschlossenen Hochschulstudiums. Das hatte zur Folge, dass alle Musiker in ihrem Fach sehr hoch qualifiziert waren. Die Texte wurden durch Lektorate zensiert und die Texter entwickelten eine eigene Sprache. Die Botschaften waren oft nur zwischen den Zeilen zu lesen. Darauf hatten sich auch die Zuhörer eingestellt und so gelang es, auch kritische Texte zu veröffentlichen. Überleben konnten die Profimusiker in der DDR sehr gut, da die Rockmusik eine große Bedeutung hatte und staatlich unterstützt wurde. Es gab genügend Auftrittsmöglichkeiten und Förderungen damals.

Karussell war eine der erfolgreichsten Bands der DDR überhaupt, löste sich gleich nach der Wende 1991 aber auf, und Sie selbst wechselten in die Hotelbranche, um dann 2007 doch wieder ein Comeback zu starten. Hatten Sie zwischenzeitlich ganz einfach die Nase voll von Musik?
Raschke: Mit der Wende 1991 gab es kein Interesse mehr an DDR-Rockmusik, da nun auch das internationale Musikangebot in vollem Umfang zugänglich war und die Menschen diesbezüglich einen großen Nachholbedarf hatten. Der Systemwandel hatte in allererster Linie wirtschaftliche Auswirkungen auf die gesamte Kunst- und Kulturszene der ehemaligen DDR. Es wurden alle Kulturhäuser und Konzerthallen abgewickelt, umgenutzt oder waren dem Verfall preisgegeben. Überall gab es eine völlige Neuorientierung.

Auch bei Ihnen?

Raschke: Bei mir, und natürlich auch in der Musikszene. Es gab nur wenige Musiker, die weiterhin ihren Lebensunterhalt davon bestreiten konnten. Und es konnte sich damals auch niemand vorstellen, dass die DDR-Rockmusik noch einmal ein Comeback erleben würde. Deshalb hatte man damals auch irgendwie schon damit abgeschlossen. Unser Karussell-Comeback habe ich meinem Sohn zu verdanken. Er ist als Kind mit unserer Musik aufgewachsen und war 2007 der Meinung, dass es Zeit wäre, wieder durchzustarten. Und er hat Recht behalten, es war genau der richtige Zeitpunkt. Allerdings haben wir uns nicht auf unseren alten Hits ausgeruht. Wir konnten mit unseren letzten Alben „Loslassen“ und „Erdenwind“ an die Karussell-Tradition anknüpfen. Die Band ist wiedererkennbar, hat sich ihren textlichen und musikalischen Anspruch bewahrt und erobert sich mit einem zeitgemäßen Sound auch das junge Publikum.

Wenn Sie damals Ihre Situation in der DDR und Ihr Leben als Musiker mit der von heute in Gesamtdeutschland vergleichen, zu welchen Erkenntnissen kommen Sie da?
Raschke: Ein Vergleich ist eigentlich überhaupt nicht möglich. Als Musiker finde ich mich heute in einer harten Musikindustrie wieder, die auch existenziell nicht sicher ist. Ich verweise nur auf die Zeit der Pandemie. In der DDR war man als Musiker vielleicht kontrolliert und es gab viele materielle Probleme und Sorgen. Aber diese Sorgen waren nicht existenziell.

Ist der große Hit von Karussell „Als ich fortging“ aus dem Jahr 1987, in dem es vordergründig um die Flucht aus einer kaputten Beziehung, in Wahrheit aber um die enttäuschte Liebe zur DDR ging, heute noch persönlich wichtig für Sie oder sehen Sie ihn lediglich als Dokument einer vergangenen geschichtlichen Epoche?
Raschke: Dieser Song ist natürlich nicht wegzudenken und bietet viel Raum für eine vielschichtige Interpretation. Leider wird er oft auf die Wendezeit reduziert. Allerdings zeigt das Entstehungsjahr deutlich, dass dies nicht zutreffend ist.

DK

Das Interview führte Karl Leitner.



Interview und Konzert: Samstag, 2. Oktober, 20 Uhr, Kulturzentrum neun. Einlass ist bereits um 19 Uhr. Die Veranstaltung ist kostenfrei.