Für Mina Lee muss sich der vergangene Donnerstag wie ein Sechser im Lotto angefühlt haben. Die Mitarbeiterin des Flughafen-Büros im südkoreanischen Seoul ist ein langjähriger Fan des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (BR). Seit rund zehn Jahren, noch in der Zeit von Chefdirigent Mariss Jansons, reist die Koreanerin der Münchner Truppe hinterher. Umso größer war ihre Freude, als ihr „Lieblingsorchester“ die jetzige Asien-Tournee in Seoul startete.
Beim zweiten Konzert der BR-Symphoniker unter dem Chefdirigenten Simon Rattle in der Lotte Concert Hall wartete Lee vor Beginn der Anspielprobe am Künstlereingang: mit einer Schachtel voller Cookies, mit „BRSO“-Glasur. Was folgte, machte sie sprachlos. Sie wurde kurzerhand in den Backstage-Bereich gebeten, wo sie nicht nur von ihren „Lieblingsmusikern“ empfangen wurde. Auch ein gut gelaunter Rattle schlurfte vorbei und war sichtlich angetan von den Leckereien.
Wie sich die BR-Truppe und der berühmter Chefdirigent bei Lee bedankten? Nicht nur mit einer Karte für das Abendkonzert, sondern auch mit einer Einladung zur Anspielprobe. Dort wurde sie auf die Bühne gewunken. „Oh mein Gott!“, sagte sie fassungslos. Sie musste regelrecht auf das Podium hin zu Rattle getrieben werden, damit Fotos geschossen werden konnten. „Ich kann es nicht glauben!“, großes Lachen im Saal.
Endlich wieder auf Asientour – nach der Pandemie
Auf diesen Moment, dass das Orchester endlich wieder nach Asien reist, hatten sie und andere Fans in Fernost sechs lange Jahre warten müssen. Infolge der Pandemie mussten 2020 und 2022 geplante Asien-Tourneen abgesagt werden. Als die BR-Symphoniker zuletzt 2018 durch Asien tourten, lebte noch der damalige Chefdirigent Mariss Jansons. Die aktuelle Reise nach Korea, Japan und Taiwan ist zugleich die erste gemeinsame große Tournee von Rattle mit seinem Münchner Orchester.
Umso größer war das öffentliche Interesse, wie allein eine Pressekonferenz zum Auftakt der Tournee in Seoul zeigte. Der Andrang war gewaltig, und manche Frage offenbarte, wie genau und zugleich kritisch in Asien die aktuellen Entwicklungen im Kulturleben Bayerns beobachtet werden. „Wie steht es um den neuen Konzertsaal in München?“, wollte beispielsweise ein Journalist von Rattle wissen. „Nun – da sind wir also“, erwiderte Rattle und schmunzelte leicht gequält. „Wenn ich nach Korea komme, scheint es jedes Mal einen neuen Konzertsaal zu geben oder gebaut zu werden. Gibt es da Lektionen zu lernen? Ja, die gibt es.“ Die Stadt München und die Orchester vor Ort verdienten eine Lösung, so Rattle. Noch dazu bestehe, wegen des ausbleibenden Starts der Generalsanierung der Gasteig-Philharmonie, ein „Notfall“.
Das geplante Konzerthaus am Münchner Ostbahnhof sei entschieden, klärte Rattle in Seoul auf. „Zur Richtigkeit gehört aber auch, dass es zehn Jahre dauern wird, bis es steht. Unsere Arbeit besteht jetzt darin zu sagen: Bitte bewegt euch!“ Sein Fazit in Seoul: „Ein erster Spatenstich würde uns alle besser fühlen lassen. Ist es also bestätigt? Politisch ja, aber in der Realität – mmh.“ Lautes Gelächter auf der Pressekonferenz.
Eine größere Blamage für den „Kulturstaat Bayern“ lässt sich nicht denken. Die zwei Konzerte in Seoul waren genauso überfüllt wie die Pressekonferenz. Das lag keineswegs an dem jungen Klaviersolisten Seong-Jin Cho aus Südkorea, der in seiner Heimat verehrt wird wie Lang Lang in China. Die BR-Truppe und Rattle genießen in Asien allerhöchstes Ansehen, die Kontakte zwischen dem BR und Fernost sind traditionell ausgesprochen eng und intensiv.
In Seoul wurden sie mit Jubelstürmen gefeiert, obwohl die zwei Programme für das breite Publikum in Fernost durchaus harte Kost ist. Zum Start gab es einen reinen Brahms-Abend mit dem „Klavierkonzert Nr. 2“ und der „Sinfonie Nr. 2“. Wenn Brahms aber derart fließend und luzid interpretiert wird, fällt in Seoul jede noble Distanz. Schon im Klavierkonzert verschmolzen der Solopart und das Orchester zu einer Stimme.
Der Münchner Klangkörper wurde in Seoul gefeiert
Eine große Kammermusik erwuchs zudem aus der „Zweiten“. Mit der „Neunten“ von Anton Bruckner, dem Klavierkonzert Nr. 2 von Beethoven und den „Sechs Stücken“ von Anton Webern ging es für Asien ungewöhnlich weiter. Selten erlebt man Bruckner derart expressiv und frei von jeglichem breiten Zelebrieren. Die fließenden, teils auch flotten Tempi erinnerten an Günter Wand oder Bernard Haitink, fast schon expressionistisch wie bei Webern der Ausdruck.
Die Kultiviertheit der Klangkultur der BR-Symphoniker ist singulär in der Orchesterwelt. Sie kreieren gemeinsam einen in sich atmenden Klangkörper. Dafür wurde die Münchner Truppe in Seoul gefeiert, und deswegen liebt Mina Lee dieses Orchester so sehr. „Dieser warme, reine, transparente Klang der Streicher, die Präzision und Klarheit: Das ist für mich wirklich einmalig. Da kriege ich Gänsehaut.“ Mal sehen, wie es in Japan und Taiwan weitergeht.
DK
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