Eine Nacht mit Victoria

20.07.2015 | Stand 02.12.2020, 21:01 Uhr

Sommer in Berlin. Alle sitzen draußen. Von früh bis spät. Auf Balkonen, in Cafés, an der Spree, im Park oder einfach irgendwo auf der Straße. Da, wo es sich so urban und frei anfühlt. Wie auf der Warschauer Brücke, mit Blick auf die darunter vorbeiziehende S-Bahn und den Sonnenuntergang über der O2 World. Det is Berlin im Sommer. Eigentlich.

Doch dieses Jahr ist alles anders. Dieses Jahr geht Berlin ins Kino. Denn dort gibt es das wahre Berlin zu sehen: „Victoria“ – ein Film von Sebastian Schipper. „Kino wie im Rausch“, titelt die Presse schon während der Berlinale. Eine Woche nach dem offiziellen Kinostart sahnt „Victoria“ beim deutschen Filmpreis sechs Lolas ab. Spätestens jetzt ist das blau-gelbe Filmplakat mit Victorias Gesicht omnipräsent. Berlin ist Victoria. Wir sind Victoria.
 
Denn ob man will oder nicht, weiß jeder längst, um was es geht: „Die junge Spanierin Victoria lernt im Berliner Nachtleben vier Jungs kennen: Sonne, Boxer, Blinker und Fuß (real Berliners). Sie verliebt sich und landet plötzlich in einem Albtraum.“ Soweit nichts Neues, wie ich finde. Ist uns allen schon mal passiert. Doch dieses ganze Berlinfilm-Spektakel dauert 140 Minuten und kommt ohne einen einzigen Schnitt aus. Ich weiß nicht, was mich mehr abschreckt: 140 Minuten ohne Schnitt oder der Ausdruck „Berlinfilm“.
 
Ich habe längst genug von deutschen Berlinfilmen, in denen junge, immer gut aussehende Menschen durchgehend falsche Entscheidungen treffen, weil sie lieber kiffen oder gegen ihre Eltern rebellieren. Oder beides. Auch gerne in Schwarz-Weiß. „Victoria“ ist in Farbe, dafür ohne Schnitt. Vielleicht, so überlege ich, musste der Regisseur zu drastischen Sparmaßnahmen greifen. Berlin-Filme haben nämlich grundsätzlich kein hohes Budget. „Arm, aber sexy“, und so. Da muss man eben mal am Cutter sparen. Oder es gab Streit im Team.
 
Der Cutter sprang ab, und Herr Schipper machte das Problem zum Konzept: One girl, one city, one night, one...äh... take! Weil Berlin ist voll spontan und so. Aber dann sechs Lolas? Das irritierte mich, auch wenn ich noch nie ein großer Fan des deutschen Filmpreises war. Dieser Film war entweder eine Katastrophe oder ein Meisterwerk. Wie dem auch sei. Ich würde es nie erfahren, denn ich würde mir diesen Berlinfilm nicht ansehen. Schon aus Prinzip. Natürlich tat ich es doch. Weil man Prinzipien überdenken muss.
 
Und weil es mitten im Sommer plötzlich stürmte, es keinen Sinn mehr machte, irgendwo an den S-Bahn-Gleisen rumzusitzen. Außerdem wollte ich es verstehen, das atemberaubende blau-gelbe Kino-wie-im-Rausch-Phänomen. So begab ich mich eines Abends auf die Reise mit Victoria, Sonne, Boxer, Blinker und Fuß. Mitten im Kinosaal der Kulturbrauerei erlebten wir gemeinsame 140 Minuten. Wir lachten zusammen. Wir verliebten uns.
 
Wir quatschten Blödsinn, kifften, tanzten, rebellierten und trafen die falschen Entscheidungen. Wir landeten in dem schlimmsten Albtraum unseres Lebens. Und als wir nach 140 Minuten erwachten, trennten sich unsere Wege. Victoria ging dem Sonnenaufgang in der Friedrichstraße entgegen. Ich schwankte in der einsetzenden Dunkelheit die Danziger Straße hinunter. Mir war immer noch übel von der Fahrt im Fluchtwagen und den vielen Drogen. Ich schwitzte wegen des Überfalls, des entführten Babys und des vielen Blutes.
 
Hier, auf der Danziger Straße, roch es nach Sommergewitter und Erleichterung. Erleichterung darüber, dass es vorbei war. Dass es nicht echt war. Es war nur ein Film. Nur ein Traum. Ein Meisterwerk.
 
Zur Person: Christiane Hagn wurde 1980 in Ingolstadt geboren. Sie studierte Theater- und Medienwissenschaften, Psychologie und Spanisch in Erlangen. 2005 zog sie nach Berlin. Sie veröffentlichte mehrere Bücher, arbeitet als Drehbuchautorin und Ghostwriterin.