Alles nur ein Traum?

Yvonne Kespohl inszeniert „Alice im Wunderland“ am Staatstheater Augsburg als knallbunten Spaß

14.11.2022 | Stand 19.09.2023, 22:03 Uhr

Die verrückte Teegesellschaft: Natalie Hünig, Annina Euling, Marie Scharf und Patrick Rupar (von links). Foto: Jan-Pieter Fuhr

Von Anja Witzke

Augsburg – Gerade noch hatte Alice an der Eisteedose in ihrer Hand genippt. Im nächsten Moment ist die gleiche Dose ins Riesenhafte gewachsen. Oder ist Alice geschrumpft? Was eben noch Vorhang war, bedeckt jetzt als Picknickdecke den Boden. Eine Packung Käsebällchen hat die Ausmaße eines Schranks angenommen (sogar mit Drehtür). Und hinter dem meterlangen Salatblatt raschelt eine gigantische Raupe. Alice ist ins Wunderland gefallen, wo nicht nur die Größenverhältnisse außer Kraft gesetzt werden, sondern merkwürdige Wesen und Fabeltiere sie in irritierend unlogische Diskurse verwickeln.

Das Staatstheater Augsburg hat mit Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ aus dem Jahr 1865 einen Klassiker der Kinderbuchliteratur auf den Spielplan gesetzt. Einst als Gegenentwurf zur viktorianischen Gesellschaft mit ihren rigiden Konventionen entstanden, betont Regisseurin Yvonne Kespohl in ihrer Fassung das Fantastische, Märchenhafte, Absurd-Sprachspielerische der Erzählung. Und das Publikum (ab 8 Jahren) im Martini-Park lässt sich gern von dem Spaß mitreißen.

Die Musik von Lukas Brehm und Jonas Pentzek ist poppig modern und hat Ohrwurm-Qualität. Bühne und Kostüme von Lydia Huller und Mariam Haas sind bunt und verrückt. Zum einen sind die Gegenstände so überdimensioniert, dass die Spieler daneben wie Winzlinge wirken. Zum anderen verfügen sie über geheime Türen oder Klappen, in denen man plötzlich verschwinden kann. Bisweilen bergen sie auch geheime Schätze. Wenn die Teegesellschaft der verrückten Hutmacherin (!) beispielsweise die Tafel deckt, dann dient die gigantische Dose als eine Art Vorratskammer, der nicht nur Gastgeberin, Märzhase und Schlafmaus entsteigen, sondern aus der die drei auch Geschirrstapel, Riesentassen, Käselaibe und Tortenstücke holen.

Die Teegesellschaft zählt sowieso zu den Höhepunkten des Theaternachmittags: mit hinreißendem Slapstick inszeniert und mit den kniffligen Rätseln, Wortwörtlichkeiten, Paradoxien und sprachphilosophischen Verwirrspielen nah am Originaltext. Das tut der Inszenierung gut, läuft sie doch Gefahr, den eigentlichen Kern der Geschichte – die Suche nach der eigenen Identität in einer durch strikte erzieherische Normen geprägte Erwachsenenwelt – zu vernachlässigen. Yvonne Kespohl hat weniger das Psychogramm einer Heranwachsenden interessiert als vielmehr das Unsinnpotenzial der Vorlage. Ihr Wunderland ist ein Pop-Art-Traumland, wo keine Ordnungsprinzipien mehr gelten, Zeit und Raum ins Wanken geraten, sich aber letztlich alles in Gelächter auflöst.

Wenn Tweedledee und Tweedledum – die hier zu Dings und Bums werden – zum Schnick-Schnack-Schnuck-Showdown auflaufen, Humpty Dumpty ein Hohelied auf Adjektive singt, das weiße Kaninchen samt Riesen-Uhr durch die Landschaft pest und die Spielkarten wegen der falschen Pflanzaktion vor dem Zorn der unberechenbaren Herzkönigin zittern, ist das natürlich wahnsinnig lustig. Warum die Herzkönigin aber nicht mehr Krocket spielt, sondern E-Auto fährt und auf einem amerikanischen Akzent herumkaut, erschließt sich nicht, ist aber vielleicht auch nicht wichtig.

Regisseurin Yvonne Kespohl gibt ein hohes Spieltempo vor und kann auf ein spielfreudiges Ensemble vertrauen. Annina Euling ist eine neugierige, selbstbewusste 11,5-jährige Alice, der Lewis Carolls Nonsens-Texte leicht von der Zunge gehen. Alle restlichen Rollen teilen sich Patrick Rupar, Marie Scharf, Michael Kopmann und Natalie Hünig, die den sportlichen Kostüm-wechlse-dich-Marathon mit Bravour und Raffinesse bewältigen. Jeder für sich vermag Highlights zu setzen. Man schaut ihnen einfach gern beim Spielen zu. Davon zeugt nach 70 Minuten jedenfalls der begeisterte Applaus.

DK




ZUR PRODUKTION

Theater:

Martini-Park, Augsburg

Inszenierung:

Yvonne Kespohl
Bühne und Kostüme:

Lydia Huller, Mariam Haas

Musik:

Lukas Brehm, Jonas Pentzek

Vorstellungen:

bis 26. Dezember

Kartentelefon:

(0821) 3244900