München
Zwischen Wort und Traum

2500 Jahre Literaturgeschichte der Natur: Eine Ausstellung des Münchner Literaturhauses entführt "Ins Blaue"

11.07.2018 | Stand 23.09.2023, 3:42 Uhr
  −Foto: Fotos: Dashuber/Literaturhaus

München (DK) Am schönsten ist das Himmelbett. Man liegt auf Gras und blickt hinauf ins Wolkenspiel aus Weiß und Blassblau, dazu ein leises Vogelzwitschern: Man könnte so schön träumen. Auch wenn das Gras nicht echt ist, die Wolken nur eine Videoprojektion sind und das Vogelkonzert vom Band kommt. Aber man liegt ja mitten in einer Ausstellung und hat noch 2500 Jahre Weltliteratur über Natur vor sich. "Ins Blaue! " heißt die Schau im Münchner Literaturhaus, die auf feinsinne Art "Natur in der Literatur" beleuchtet. Von Homer über Jean Paul und Goethe zu Robert Musil und Judith Schalansky.

Ein lustvolles Spiel mit der Literatur hat Kuratorin Heike Gfrereis auf 300 Quadratmetern in Szene gesetzt. Eine Art Wunderkammer hat sie geschaffen, in der sich merkwürdige Fundstücke bestaunen lassen: ein Biberschädel etwa, eine Korallenkette und Hausstaub im Einweckglas, ein Spitzer, durchsichtige Schlangenhaut. Dazu jede Menge Fotos - Hermann Hesse als Nacktkletterer, Franz Kafka als Skifahrer, Thomas Mann am Strand - und Geschriebenes. Von Thomas Bernhards Notiz: "Es gibt kein gutes oder schlechtes Wetter, es gibt nur Wetter" bis zu Gertrude Steins berühmtem Satz "Rose is a rose is a rose is a rose" (aus dem Gedicht Sacred Emily). "Die Natur in der Literatur ist etwas anderes als die Natur, die uns umgibt. Sie ist immer auch eine erfundene Natur", schreibt Heike Gfrereis im Begleitkatalog.

Und so spaziert der lesende Betrachter von Kapitel zu Kapitel, die etwa überschrieben sind mit "Der Himmel, das Gras" oder "Die Luft, der Schatten" oder "Der Garten, die Wildnis", verweilt einen kurzen Moment auf der Gartenbank in der extra angelegten grünen Stadtoase voller Rosmarin und Oleander und gibt sich, angeregt durch die mannigfaltige Assoziationsräume, seinen eigenen Naturbetrachtungen hin. Aber Vorsicht! Nur nicht zu sehr schwelgen im Grün und Blau und den satten Farben, die der Sommer schenkt. "Die Natur ist nützlich und gut, keineswegs entzückend", stellt Robert Walser fest. "Auf der Bank liest er ein Buch. Drum herum ist Natur, aber eben, das ist es, die Natur ist gut zum Drumherumliegen, das Buch ist die Hauptsache. "

Obwohl es allerorten grünt, haben sich die Ausstellungsmacher für den Titel "Ins Blaue" entschieden. So heißt auch ein Song von Max Giesinger, in dem er beschreibt, wie er von der Hitze müde Wolkenschafe zählt. Aber das Blau steht nicht nur für die Farbe des Himmels. Wer sich auf eine Fahrt "ins Blaue" begibt, tut das mit unbekanntem Ziel. Und so kann auch der Ausstellungsbesucher allerhand Unerwartetes erleben. Etwa, wenn er sich kopfüber in Brigitte Kowanz' Installation "Lost in Tought" stürzt - ein Kubus aus Glas und Neonschriften, der durch Spiegelungen scheinbar unendliche Lichtkanäle erzeugt, in denen sich die Gedanken leicht verirren können. Wenn er sich durch den Kräutergarten schnuppert. Oder in absoluter Dunkelheit seine Sinne schärft.

Zwischen den Installationen stößt man auf das Skizzenbuch von Charles Darwin, in dem er erste Überlegungen zur Entstehung der Arten fixiert, oder auf eine Phiole mit atlantischem Passatstaub, datiert vom 10. März 1834, ebenfalls aus dem Besitz des britischen Naturforschers. Man findet Goethes Wolkenstudien und Paul Klees Bild "Anfang eines Gedichts", das er zwei Jahre vor seinem Tod gemalt hat: Aus einem Haufen Buchstaben formen sich die Worte "So fang es heimlich an". Man bewundert Brigitte Stenzels gemalte Vögel und schmunzelt über Robert Gernhardts "Mondgedicht": ". . , - fertig ist das Mondgedicht".

Überhaupt die ausgewählten Texte über Natur: Wie Blüten auf einer bunten Blumenwiese recken sie sich dem Betrachter entgegen. Man kann sie im Vorbeigehen pflücken. Brechts "Erinnerung an die Marie A. " mit dieser Wolke, die "sehr weiß und ungeheuer oben" schwebt, oder Ingeborg Bachmanns "Erklär mir, Liebe", Hölderlins "Hälfte des Lebens" und Brentanos Sternengesang.

Am spannendsten aber sind die Fundstücke aus der Natur, die zahlreiche Literaten auf Bitte der Kuratorin um ein persönliches Objekt, das sie mit Natur assoziierten, zur Ausstellung beisteuerten. Versehen mit kleinen Texten natürlich. In Thomas Köcks Einweckglas tummelt sich allerlei Lebendiges im Hausstaub. Martin Mosebach sandte einen Stein mit Seepocken von der marokkanischen Atlantikküste, wohin er sich bei der Arbeit an seinem Roman "Das Blutbuchenfest" zurückgezogen hatte.

Durs Grünbein schickte seine "Voodoo-Box" mit zwei Nashornkäfern in Kampfstellung, der Borste eines Stachelschweins und einem Abzeichen mit dem Porträt Josef Stalins. Er schrieb dazu: "Manchmal öffne ich die Box, nur um nachzusehen, ob alles noch an seinem Platz ist. Das ist der Moment für eine kurze Meditation über die unheilvolle Naturgeschichte des Menschen. " Von Jan Wagner stammt ein Stück Torf - Erinnerung an eine Odyssee im irischen Hochmoor. Und Thomas Gsellas Beitrag ist schlicht eine Mückenpatsche. Kommt einem die Natur zu nahe, schlägt der Mensch zurück.

Literaturhaus München, bis 7. Oktober, Mo bis Fr 10 bis 19 Uhr, Sa, So, Fei 10 bis 18 Uhr.

 

Anja Witzke